laut.de-Kritik
Eine echte Hitsau, dieser Boa.
Review von Michael SchuhWer glaubt, dass es ein Phillip Boa nötig hat, mit dem Feingefühl eines Marketing-Managers die jüngste Re-Issue-Kampagne zum Stones-Klassiker "Exile On Main Street" billig für seine Zwecke auszunutzen, besitzt eine blühende Fantasie.
Vielmehr stellt "Exile On Strait Street" das erst zweite Livealbum in seiner Karriere dar, als direkter Nachfolger des 1991er Doppelalbums "Exile On Valletta Street", beides übrigens Straßen in Boas Wahl-Exil Malta.
Obwohl auch schon wieder fast 20 Jahre her, beteuert der Sänger, dass ihn vor allem seine Fans auf die dringliche Notwendigkeit einer solchen Veröffentlichung festgenagelt hätten. Folglich erscheint die Liveplatte als reine Online-Veröffentlichung in Boas Fanshop ohne Strichcode und Amazon-Platzierung - wer dort nach "Exile On Strait Street" sucht, gelangt zu den Stones.
Es fällt nicht schwer, sich die diebische Freude des Indie-Altmeisters über diesen kleinen Anti-Corporate-Gag vorzustellen. Als Hüter der künstlerischen Authentizität sorgte er selbstredend auch dafür, dass die Liveaufnahme unverfälscht auf CD festgehalten wurde (Vinyl war zu teuer, außer es melden sich genügend Interessenten per Mail).
Vier Konzerte (Düsseldorf, Berlin, Zwickau, Leipzig), 24 Spuren, keine Studio-Overdubs, kein nachträgliches Einsingen. Eine Platte als ungeschöntes Abbild des Liveeindrucks. Wo Bass und Drums auch mal etwas matschig klingen, Boa am Anfang einer Strophe zu spät ans Mikro hechtet und Pia Lund in schräger Höhenluft trillert.
"Exile On Strait Street" klingt im besten Sinne altmodisch und verweist auf Zeiten, die die Ticket-Abbildungen im Booklet erinnern: Boa auf dem Zillo Festival in Durmersheim, als German Indie Wunderkind in London oder auf dem Bizarre '95 weit vor einer Band namens Rammstein.
Die Songs sind über die Jahre freilich keinen Deut schlechter geworden, Boa am wenigsten. Mit der sicheren Hand eines Jürgen Klopp an der Taktiktafel führt uns der Dortmunder durch die aufregenden Stationen seiner Vergangenheit, vom brillianten Opener "Atlantic Claire" bis zum wilden Rausschmeißer "Kill Your Ideals". Mit Ausnahme des absenten "Container Love" dürfte es kaum zu Ausschreitungen im Kreis der Hardcore-Fans kommen.
Im Übrigen sollte niemand glauben, der alte Querkopf habe es sich mit der Setlist leicht gemacht: "Ich lasse mir regelmäßig last.fm ausdrucken und ich bekomme halbjährlich Download-Abrechnungen über die beliebtesten Songs. Ich weiß daher, dass wir die beliebtesten Songs eigentlich immer spielen.". Klingt einleuchtend. Eine echte Hitsau, dieser Boa.
Dass er mit Can-Drummer Jaki Liebezeit für fünf Songs einen Mann akquirieren konnte, der zeitlebens gegen konventionelle Songstrukturen antrommelte, dürfte ihm ein persönliches Highlight gewesen sein.
Das mit ihm gespielte "Valerian" sowie der Titelsong vom aktuellen Album "Diamonds Fall" ragen selbst unter Boas Klassikern heraus, was bei Songs wie "I Dedicate My Soul To You" und "Fine Art In Silver" keine leichte Hürde darstellt.
Fazit: Eine schöne Erinnerung für alle Dabeigewesenen, aber eben auch kein Ersatz für ein neues Studioalbum, zumal angesichts Boas bestechender Form in jüngster Zeit.
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top typ!