laut.de-Kritik
Folk-Horror aus der Zwischenwelt.
Review von Rinko HeidrichSelbstzweifel und Sinnsuche überkamen Polly Jean Harvey nach dem letzten Album "The Hope Six Demolition Project". Ihre Leidenschaft Musik drohte zur Routine zu verkommen und sie fragte sich: War es das nun nach 30 Jahren? Eigentlich beruhigend, dass auch vermeintlich über allem schwebende Künstler:innen die gleichen Existenzfragen plagen wie normale Arbeitnehmer. Denn was bleibt noch, wenn der bisherige Motor und Antrieb plötzlich stottert. Gerade bei PJ Harvey, die ihre Musik immer wieder vor dem Mainstream bewahrte und die Idee einer Pop-Künstlerin nur in "Stories From The City, Stories From The Sea" (2000) für einen kurzen Moment durchspielte.
Daher nahm sie die Hilfe des Dichters Don Paterson in Anspruch und veröffentlichte zunächst die beiden Gedichtbände "The Hollow Hand" und "Orlam". Die Rückkehr zum musikalischen Prozess erfolgte dagegen in kleinen Schritten. Auf dem Klavier spielte sie zu Songs von Nina Simone und The Mamas & Papas. Diese Pause brachte nicht nur die Kreativität zurück, sondern auch eine neue Offenheit mit sich. Harvey öffnete sich den Ideen ihres Langzeit-Produzenten Flood, wodurch "I Inside The Old Year Dying" entstand, ein Album über die Kraft des Sich-neu-Verliebens.
Das Eröffnungsstück "Prayer At The Gate" führt nach Orlam, den von ihr ausgedachten, verwunschenen Ort aus dem gleichnamigen Gedichtband. Es ist ein gespenstisches Klagelied voller Metaphern und rätselhafter Figuren. Alle Lieder führen die neu geschaffenen Narrative der Gedichte und PJ Harveys Fiebertraum-artige Musik zusammen. So leicht das von ihr vorgetragene "Do-Do-Dop" auch klingt, der Hörer ahnt bereits eine Finte, die am Ende wieder eine beunruhigende Atmosphäre erschafft. "So look behind and look before / at life a-knocking at death's door", Zeilen wie aus einer Inschrift über dem Tor zur Unterwelt, in das PJ den Hörer langsam hinein zieht.
Und gerade "Seem An I" dürfte jedem gefallen, den die Musikern schon vor dreißig Jahren zu "Down By The Water" verzauberte, um im Märchen-Narrativ zu bleiben. Ein damals ganz eigener Electronica-Blues-Rhythmus, der Radioheads spätere Experimente vorweg nahm. Auch heute klingt diese Mixtur immer noch zeitlos. Im Unterschied zum damals etwas kratzigen Gesang klingt Harvey heute nach einer Frau, aus deren Stimme Reife und Lebenserfahrung spricht. Dabei versteht man kaum wirklich etwas über ihre sehr bildhafte Naturmystik. Scharlachroter Himmel über einem Hügel aus Knochen, Krähen als Boten des Schreckens. Biblische Motive wie aus einem Goya- oder Dürer-Gemälde.
PJ nimmt die harte Küstenregion und urwüchsige Landschaft ihrer südenglischen Heimat-Grafschaft Dorset als Setting für ihr World-Building. Eine Welt wie aus einem Drehbuch für Folklore-Horrorfilme. Robert Eggers "The Witch" fällt einem ein oder Aris Asters "Midsommar", die eine ähnlich immersive Konfrontation in einem archaischen und brutal anmutenden Erzählrahmen formulieren. Grotesk wird es, wenn Popkultur-Referenzen wie Elvis Presley auf eine vorzeitliche Welt mit Rittern ohne Köpfe treffen. Ein Zustand im Halbschlaf, den "The Nether-Edge" gekonnt umsetzt. Ein Filtereffekt mit Störgeräuschen und Rückkopplungen verfremdet Polly Jeans Stimme so, dass sie wie ein zufällig entdecktes Signal aus einer Traumwelt erscheint.
Ihrem Gedichtband "Orlam" lag sogar ein Glossar anbei, weil selbst englische Muttersprachler den Dorset-Dialekt nicht vollständig verstehen. Eigentlich mag PJ auch gar nicht verstanden werden, wir Hörer sollen uns neben ihren unheilvollen Figuren einen Weg in diese Welt bahnen. Und dabei liegt über einem Track wie "All Souls" eine so derart undurchdringliche Nebelschwade, dass man nur noch Umrisse von Sound-Fragmenten wahrnimmt und einzig Harveys Stimme als Orientierung dient. Es ist ein ständiges Tasten und langsam Begreifen in einer noch unbekannten Umgebung.
Die ohnehin zurückgezogen lebende Künstlerin wirkt 2023 noch unsichtbarer als auf "The Hope Six Demolition Project". Für den Vorgänger verließ sie ihre Komfortzone, bereiste fremde Länder und verarbeitete verschiedene Sinneseindrücke. "I Inside The Old Year Dying" baut sein Drama und den Horror dagegen sehr behutsam auf. Es geht nicht um schnelle Bedürfnisbefriedigung, alles benötigt einen Raum.
"A Child's Question, August" mit seinen merkwürdig zersplitterten Trip Hop-Clustern aus verfremdeten Gitarren-Effekten oder die Trance-artigen Loops und die grimmigen Flüster-Stimme von Schauspieler Ben Wishaw in "A Child's Question, July" graben noch mal eine Bewusstseinsebene tiefer. Genau dort, wo alles verdrängt unter der Oberfläche liegt. Zum Vorschein kommt eine Welt, die zu Anfang einschüchternd und in ihrer bedeutungsschwangeren Mythologie nicht immer greifbar ist. Aber genau darum geht es: Wir müssen nicht alles verstehen, aber wir sollten es endlich wieder fühlen.
7 Kommentare mit 20 Antworten
Leider tobt hier gerade ein Stadtfest mit Open Air Bühne umme Ecke, deren Lautstärkepegel auch mit Over-Ear-Köpfhörern nicht in ausreichendem, aber gesundem Maße zu übertünchen ist... Muss ich mit denen und der Platte in Digitalkopie wohl doch noch in den nächstgelegenen schattigen Wald. Glaubt mensch den Rezis von Hrn. Heidrich sowie der musikalisch geschmackssichersten unter meinen Freundschaften scheint genau dies ja glücklicherweise eines der denkbar besten Ambientes zum Genuss dieser Platte sein, auch wenn nach "The Hope Six Demolition Project" erstmals seit ich ihre Musik 1995 für mich entdeckte die Erwartungen gedämpfter ausfallen.
Was für ein Haufen Shit, elendes musikalisches Gejammere. Keine Ahnung warum diese Frau so gehyped wird.
Geh Muse hören.
Immer diese Kleinstgeister, die von nichts eine Ahnung haben und ständig ihren völlig belanglosen Dünnschiss hier rein kacken müssen.
Dann lösch dich halt, dann wären hier eh alle glücklicher.
Das nächste Mini Hirn …
Unlustigster Troll von allen
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Die Wahrheit ist nie lustig für jene, die in ihren Wahn glauben irgendein Niveau zu besitzen, aber dennoch nur mittellos im intellektuellen Keller hausen.
Was von intellektuellem Keller erzählen, aber nicht in der Lage sein, Dativ von Akkusativ zu unterscheiden. Lösch dich.
Typischer Apple Freak
Wäre er so ein Connaisseur, wie er vorgibt, wäre sein auftreten hier um noch einiges erbärmlicher als eh schon. Das ist ja der Witz, den er nicht versteht. Er ist also wahlweise ne arme Wurst, der niemand zuhört oder ne arme Wurst, der niemand zuhört.
Der Hype besteht sicher schon.
Aber gleichzeitig auch eine ehrliche Wertschätzung.
Ich mag "To bring you my love" sehr.
Ihr konsequent hoher Gesang auf "I inside the old year dying" wirkt auf mich mehr gewollt als gekonnt. Aber sie hat zum Glück für sie genügend Fans, die auch diese Phase abfeiern werden.
Find den Track gerade aufgrund der Varianz ganz gut und weniger öde. Insgesamt bin ich aber bei Ragi. Bin aber natürlich Genrefremdi Deluxe.
Je weiter sie sich von ihrer dreckig-rockigen Phase entfernt, in der sie noch mit Cave usw. zu beeindrucken wusste, und je mehr sie meint, einen auf Avantgarde machen zu müssen, umso weniger kann ich mit ihr anfangen. Ist für mich ein ganz typischer Fall davon, wie die Musik von der Hintergrundgeschichte aus den Pressetexten lebt. Ohne diese Informationen, die das Kopf- und Herzkino anwerfen sollen, gäbe es vermutlich nur die Hälfte der Wirkung.
Ist nicht schlecht, und halt auch nicht gut. Vielleicht gibts beizeiten mal ne zweite Chance.
Oooch, der kleine musikalische Bauerntölpel ist überfordert. Avantgarde erfordert grundsätzlich einen großen Horizont … obwohl … nichts an PJ Harvey ist Avantgarde, bei echter Avantgarde hängt es dir dein kleines Hirn aus. Brennt durch, wie eine viel zu schwache Sicherung.
Die Kids, die an Deiner Waldhütte vorbeischlendern, viben wohl ziemlich hart auf die neue PJ Harvey.
Jö, das ist alles, was aus dem Zumpferl tropft.
http://www.quickmeme.com/p/3vtcu9/page/3
Applemac ist Österreicher. Na, das erklärt einiges.
Bei meinem letzten Konzert von PJ im Admiralspalast vor locker 10 Jahren hatte ich den Eindruck: "Jetzt ist sie nach Prenzlauer Berg umgezogen!" Etabliert, besserverdienend, etwas langweilig aber sehr von sich selbst überzeugt. Also mir hat ihre "dreckig-rockige Phase" auch wesentlich besser gefallen. Artig-etabliert im Admiralspalast - das muss ich nicht haben.
Irgendwann wird man auch erwachsen.
Morbide Schönheit. Sie hat es immer noch drauf jegliche (Selbst-)Zweifel sollten verschwunden sein. Zumindest gibt es keinen Grund irgendwelche zu haben: https://youtu.be/pEjpMLfbwEc
Dieser Kommentar wurde vor einem Jahr durch den Autor entfernt.
Vorgezogenes Herbstalbum.
Hat definitiv einen „White Chalk“-Vibe.
Wenn es kühler wird, höre ich nochmal genauer hin.