laut.de-Kritik
Brachiale Emotion, die für ein ganzes Jahrhundert reicht.
Review von Anastasia HartleibPlötzlich war da nichts mehr. Der ganze Alltagswahnsinn, die To Do-Listen und Problemchen, die Ärgernisse und großen und kleinen Schwierigkeiten, die einen den ganzen Tag begleiten - alles wie weggefegt. In Bruchteilen einer Sekunde glich der Kopf einer riesigen leeren Konzerthalle, in der ein einzelner Mann im Scheinwerferlicht auf der Bühne steht und mithilfe von Mikrophon und E-Gitarre den eigenen Seelenschmerz zu lindern versucht. Dieser Mann trägt den simplen Namen Q und seine Atomwaffe heißt "The Shave Experiment (Director's Cut)".
Ein paar Drums, ein paar Akkorde und eine Tonspur, die mit etwas metallisch klirrendem Hall versehen wurde - es braucht nicht viel für dieses Album. Q Marsden braucht nicht viel. Der gerade mal 21-Jährige aus dem südlichen Florida hat genügend Explosionskraft für ein ganzes Jahrhundert. Dabei steht "The Shave Experiment (Director's Cut)" bereits für eine neue Evolutionsstufe, eine Weiterentwicklung der EP "The Shave Experiment", die bereits im vergangenen Jahr erschien. Und Himmel, ist diese Evolution gelungen!
Alles beginnt mit elf zaghaften Drumschlägen, einem kurzen Räuspern sozusagen, bevor Q mit leiernder Stimme und sanften Gitarrenströmen seiner Seele freien Lauf lässt. "Now we've been in the middle of a war we could never handle." Es ist der Moment nach dem Sturm, in den einen der Musiker mitnimmt, die kraftlose Leere, in der Wut und Verzweiflung zuvor mit zerstörerischem Wahn gewütet haben. Dort hinein setzt sich Q mit absoluter Ruhe und füllt sie mit Zuneigung. Sanfter, vorsichtiger Zuneigung. Wie eine kurze Berührung, die die Kraft hat, das wütende Kartenhaus der Selbstdemontage innerhalb eines Augenblicks in sich zusammenfallen zu lassen. "Dancin on the rooftop, with the lights off, with the moonlight / you take the tears out."
"The Shave Experiment (Director's Cut)" folgt der musikalischen Tradition der 70er. Rohe, reduzierte Stücke, mit viel Raum für Atmosphäre und Gefühl. Gleichzeitig finden sich auf Qs Album Anleihen großer mitreißender Pop-Melodien, heruntergepitcht auf ihre wesentlichsten Elemente. "The Shave" ist einerseits langsam, ruhig und mit unglaublichem Tiefgang, andererseits aber auch seicht und spielerisch. Man hört die Granden einer vergangenen Zeit, die Simon & Garfunkels, die Earth, Wind & Fires, die Hendrix' und Jacksons und auch die D'Angelos. Zur selben Zeit hört man die sensiblen Helden der Gegenwart, die Frank Oceans, Drakes und Anderson .Paaks. Irgendwo hier, zwischen Psychedelic Rock, Soul, Funk, Pop, zeitgenössischem R'n'B und Rap hat sich Q - komplett im Alleingang übrigens - sein eigenes kleines Refugium geschaffen und es der Welt zugänglich gemacht.
Seine ruhigen Songs, wie "Garage Rooftop", "Wonder", "Alone" oder "The Cry Out" treffen das eigene Ego mit einer brachialen Sentimentalität, die bis ins Mark erschüttert. Sein über den Stücken schwebendes Falsetto sucht sich seine eigenen Melodien und tut damit sein Übriges. Hinzu kommen Texte, geprägt durch eine Aufrichtigkeit, die alternativlos ist: "In a moment where I found you / I can see the pain inside you / and I know the feeling all to well [...] I shedded tears beside you and I made sure that I put them in a place where we can find it / to remember all the times we were alone in all our problems."
Und dann sind da diese leichten Momente. "If You Care" und "Break" beispielsweise, die den schweren Nebel der einsamsten aller Melancholien leichtfüßig lüften und wärmende Sonnenstrahlen ins Herz lassen. "Want" treibt einen Sault-gleich in die Bewegung und verführt zu geradezu therapeutischen Tanzeinlagen. "Take Me Where Your Heart Is" erinnert an das unschuldige Glück der allerersten großen Liebe.
Es ist diese Dualität, das Zusammenspiel aus der rohen Kraft des Schmerzes und die erhabene Leichtigkeit glücktrunkener Naivität, die "The Shave Experiment (Director's Cut)" zu einem zeitlosen und absolut gelungenen Schmuckstück formen. Das Album ist beherrscht von einer Eindringlichkeit, die keinesfalls aufdringlich sein will und seine Hörerschaft genau damit in den Bann zieht. Legendenbildung beginnt in der Regel genau hier.
3 Kommentare mit einer Antwort
Großartig Album!
Eigentlich ziemlich gut. Hat leider etwas zu oft was von diesem nervig-slicken, männlichen Teenager-Gesang, den dumme Mädels und Jungs in dem Alter für Emotionen halten. Aber ganz so penetrant wie bei den anderen Spanferkeln isses auch nicht, und piddelt der ansonsten guten Platte nicht zu sehr den Lack ab.
Vier von fünf Tüten Popcorn, mit etwas Butter fürs Ferkel dazu.
Ach, von wegen Lyrics: Nimmt man u.A. die hier zitierten Songzeilen, sollte man darauf kommen, darauf besser nicht auf die Texte zu achten. Alters- und Anime-bedingt ist das eher sentimentale Großspurigkeit als aufrichtige Gefühle. Da haben allerdings auch sehr viel jüngere Musiker schon durch Mark und Bein gehendere und weisere Zeilen geschrieben.
Also: Gesangsstil und Texten besser nicht so viel Beachtung schenken. Die Platte ist trotzdem schnieke.
Well, Moses Sumney this ain't.