laut.de-Kritik

Das Album, das die 90er Jahre tötete.

Review von

"Was soll die Scheiße?". So schrieb ich einst über AOL-Messenger einem Kumpel. Nach fünf Stunden standen wir im Saturn und hatten freudestrahlend ein Exemplar von "Kid A" ergattert. Die Erwartungshaltung so unmenschlich hoch, dass die Enttäuschung so oder so gekommen wäre. Wie Jahre vorher beim dritten Oasis-Album, dass eben nur gut war und nicht die Beatles als unkaputtbares Denkmal ablöste. Doch war das eher eine Enttäuschung, war "Kid A" ein Schockmoment.

Da waren keine Songs, nur Geräusche und keine Refrains. Klar, jeder musikverrückte Teen hatte damals auch ein Aphex Twin-Album, aber das war eben ein Irrer und sein Sound eh mehr Horror-Schock-Material, um anderen die eigene Krassheit vorzugaukeln. Radiohead waren dagegen eine schwer erfolgreiche Rockband, die mir gefälligst schöne Space-Songs wie auf "Ok Computer" schenken sollten. Was zum Mitheulen wie "No Suprises" und nicht ... ja, was war das eigentlich für ein Sound? Rückwärts laufende Vocals über kaputte Alien-Music-Fragmente und ganze drei Songs, auf denen man endlich wieder Gitarren hörte. Die gleiche verstörte Reaktion kam auch vom Radiohead-Manager, der bei der ersten Hörsession, wahrscheinlich stellvertretend für alle Radiohead-Fans, die Band nur noch entgeistert anschaute.

Heute ist klar, dass "Kid A" der vielleicht letzte Überraschungsmoment der modernen Popkultur ist. Damals wurden Millionen Synapsen auf dem Planeten komplett neu programmiert: Vergiss alles, was du über Hooks, Refrains, Verse und Bridges weißt. "Everything In Its Right Place" ist ein Sample-Monster, das nach einem Nervenzusammenbruch von Thom Yorke entstand. Genau so klingt auch "The National Anthem", eine Free-Jazz-Future-Funk-Katharsis. Chaotisches Chaos wie bei Charles Mingus und doch voller kindlicher Freude von Musikern, die keine Aufsicht mehr befürchten. "Es war ein Moment der absoluten Freiheit", fasst Yorke die damalige Situation im Studio zusammen.

Verrückt, wie oft ich das Album vor 21 Jahren immer wieder enttäuscht abbrach, ins Regal zurücksteckte und dann doch wieder rausholte. Irgendwann wurde aus Hass eine immer größere Neugier und dann sogar Liebe. Radiohead hatten für uns die Musik der 90er getötet, diesen mutlosen Alternative-Rock und den immer gleichen Grunge-Sound. "Kid A" war die Rückkehr zum Album als Statement. So wie die Krautrocker Can und Faust schon in den 70ern der konventionellen Musik den Mittelfinger zeigten. Ab jetzt wurden die Regeln für das 21. Jahrhundert neu verhandelt. Wer mutig sein wollte, musste nicht im Ruin oder kommerziellen Selbstmord enden. Schwer vorstellbar, dass Animal Collective ohne dieses Album Akzeptanz gefunden hätten.

"Amnesiac", ebenfalls in den "Kid A"-Sessions entstanden und ein Jahr später veröffentlicht, führte den Weg einfach weiter. Kein panisches Zurückrudern in den sicheren Mainstream-Hafen, sondern weiterhin Experimente, die total nach Zukunft und Zerstörung der bisherigen Konventionen klangen. Ein Glücksfall für junge Musikhörer*innen, die erneut mit massiver Gewalt in eine neue Welt hinein gestoßen wurden. Vielleicht so stark, dass erst einmal der konservative Retro-Sound der Strokes als Schutz herhalten musste. Doch es war schon zu spät, die ganzen The-Bands-Alben klingen 20 Jahre später mutlos und wie das 70er-Rockband-Cosplay einer Retro-TV-Show.

"Pulk/Pull Revolving Doors" ist die musikalische Umsetzung einer Zeitreise in das Jahr 3000 und der ersten Kommunikation mit einem fremden Exo-Planeten. Bedrohlich, klaustrophobische Ängste auslösend. Minutenlang ertönt nur ein hämmernder Stroboskop-Beat, der im Maschinengewehr-Rhythmus noch den letzten verkrampften Wunsch nach konventionaler Songstruktur auflöst.

"Amnesiac" bleibt trotzdem der zugänglichere Zwilling. "Kid A" war noch forsch, wütend und voller Verweigerung. Hier sammeln sich die Songs, die "Hörern gefallen, die mehr den OK Computer-Sound wollten", wie Yorke einmal verächtlich über das Album sagte. Das Smiths-beeinflusste "Knives Out" klingt tatsächlich sehr nach dem 1997er-Album und einem gewöhnlichen Rock-Song.

So groß und eindrucksvoll die beiden Alben nun auf "Kid A Mnesia" verschmelzen, so spärlich bleibt das Bonusmaterial. Vielleicht nicht ganz verwunderlich, da Radiohead physischen Releases schon seit Jahren vergleichsweise wenig Liebe entgegenbringen und sehr früh die Möglichkeiten neuer Technologie ausnutzten. Sämtliche Konzert-Aufnahmen liegen bereits im Internet-Archiv, sogar der Blog von Ed O'Brien, der im Jahr 1999 den Aufnahmeprozess begleitete. "How To Disappear Completely" bekommt nun ein ganzes Streichorchester und klingt nach Soundtrack-Musik. Nett, aber kein Muss. Absolut auf jedes Album hätte "Fog" gehört, das nur als B-Seite von "Knives Out" und auf der "Pyramid-EP" veröffentlicht wurde.

Es weckte damals vielleicht noch zu sehr Erinnerungen an die 90er, speziell an das (trotzdem sehr gute) Album "The Bends" mit seinen eher radiofreundlichen Songs. Komplettisten und Traditionalisten dürfen sich zudem noch über B-Seiten auf der MC-Version "Amniesette" freuen; PC- und Konsolenbesitzer tauchen dank der Kid A Exhibition in die wundersame, surreale Welt des Artworks ein. Zurück zur Erfindung des musikalischen 21. Jahrhunderts.

Trackliste

CD1

  1. 1. Everything In Its Right Place
  2. 2. Kid A
  3. 3. The National Anthem
  4. 4. How To Disappear Completely
  5. 5. Treefingers
  6. 6. Optimistic
  7. 7. In Limbo
  8. 8. Idioteque
  9. 9. Morning Bell
  10. 10. Motion Picture Soundtrack

CD2

  1. 1. Packt Like Sardines In A Crushd Tin Box
  2. 2. Pyramid Song
  3. 3. Pulk/Pull Revolving Doors
  4. 4. You and Whose Army
  5. 5. I Might Be Wrong
  6. 6. Knives Out
  7. 7. Morning Bell/Amnesiac
  8. 8. Dollars And Cents
  9. 9. Hunting Bears
  10. 10. Like Spinning Plates
  11. 11. Life in a Glasshouse

CD3

  1. 1. Like Spinning Plates ('Why Us?' Version)
  2. 2. Untitled v1
  3. 3. Fog (Again Again Version)
  4. 4. If You Say the Word
  5. 5. Follow Me Around
  6. 6. Pulk/Pull (True Love Waits Version)
  7. 7. Untitled v2
  8. 8. The Morning Bell (In the Dark Version)
  9. 9. Pyramid Strings
  10. 10. Alt. Fast Track
  11. 11. Untitled v3
  12. 12. How to Disappear Into Strings

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8 Kommentare mit 18 Antworten

  • Vor 3 Jahren

    ….. wie oft ich das Album vor 21 Jahren immer wieder enttäuscht abbrach, ins Regal zurücksteckte und dann doch wieder rausholte. Irgendwann wurde aus Hass eine immer größere Neugier und dann sogar Liebe…..

    Immer dann wenn man nicht wahrhaben will dass seine „Helden*innen“ eben keine Meisterwerke mehr raushauen, setzt dieses Phänomen ein welches man auch als „etwas schönhören“ bezeichnen kann.
    Ich stelle fest dass ich, je älter ich werde, immer weniger dazu bereit bin mir etwas auf Teufel komm raus schönhören zu wollen.
    Manchmal muss man es einfach einsehen.
    Dieses Machwerk ist nicht hörbar aber was soll‘s?
    In ihrer Discografie finden sich jede Menge tolle Sachen die einem niemand nimmt!

    • Vor 3 Jahren

      Nicht hörbar?

      [Shocked Face GIF]

    • Vor 3 Jahren

      Ist einfach das Album von Radiohead welches ich am wenigsten auflege.
      Unhörbar ist evtl ein wenig zu hart ausgedrückt, machen wir „schwer hörbar“ daraus….ok?

    • Vor 3 Jahren

      Ich würde mich EVTL. in Richtung "nicht so leicht zugänglich" bewegen.

      National Anthem, How to disappear..., Optimistic, Idiotheque, Motion Picture Soundtrack sind doch weit weg von unhörbar.

    • Vor 3 Jahren

      Unhörbar passt in der Tat perfekt.

    • Vor 3 Jahren

      "Ich würde mich EVTL. in Richtung "nicht so leicht zugänglich" bewegen."

      Joa, sind songwriterisch und klanglich definitiv ihre unkonvenionellsten Platten würde ich sagen.

    • Vor 3 Jahren

      Mit "schwer hörbar" fänden sie womöglich auch den eigenen Anspruch und die Herangehensweise ans Schreiben für den Kid A / Kid B-Zyklus selbst treffend beschrieben. Mensch, was wäre es denen damals aller Wahrscheinlichkeit so leicht gefallen, die jeweiligen stilistischen Eigenarten von "The Bends" und "OK Computer" zu extrahieren und auf einer "Anstatt Kid A"-Platte zu "ihrem neuen Stil" zu verweben und wir alle wissen, dass sie damit kommerziell högschdwahrscheinlich genauso erfolgreich gefahren wären - oder gar noch besser, da dies sehr wahrscheinlich näher an den damals europaweit musikalisch vorherrschenden Vorlieben und Hörgewohnheiten geblieben wäre.

      Allein diese Art Mut, mit der "Kid A" schelmisch grinsend um die Ecke zu lugen während die halbe Welt wie selbstverständlich auf den logisch-kohärenten Nachfolger zu zwei Alben wie "The Bends" und "OK Computer" wartet, bleibt für mich beispiellos in der jüngeren Historie menschengemachter Musik...

      ...und dass sie mit dieser "Tritte gegen die Bretter vor den Köpfen unserer Kritiker und selbsterklärter Die Hard-Fans!"-Nummer dann trotzdem zum global best seller und zeitweise vom internationalen Musikjournalismus zur einhellig beklatschten "momentan besten Band der Welt!" avanciert sind, ist dann auch "bloß" noch die zweite Schicht Blattgold überm Schoko-Mousse-Dessert, denn:

      Jederzeit und praktisch bis heute ist die Tür in die Welt runtergespielter Stiefel über eingeschlafenen Füßen sperrangelweit geöffnet für Radiohead, aber im Gegensatz zu bspw. Coldplay hatten sie sich immer noch so weit im Griff, nicht doch mal eines traurigeren Tages gemeinsam hindurch zu schreiten.

    • Vor 3 Jahren

      @Souli: Trockne dich ab und kehre zu dem einzigen wahren Faden in diesem Forum zurück!

    • Vor 3 Jahren

      "Unhörbar passt in der Tat perfekt."

      Bin baff dass du das überhaupt kennst, ich dachte du würdest um Musik die die Bezeichnung auch verdient einen großen Bogen machen. Chapeau!

      Finde Kid A bis heute ziemlich genial, und ich bin gar nicht der größte Radiohead Fan. Everything in it's right place ist für mich einer der besten Opener überhaupt...

    • Vor 3 Jahren

      Stell dir vor du wirst von Radiohead geplebfiltert.

    • Vor 3 Jahren

      Was bist du für ein musikalisches Weichei. Nicht hörbar … Kicher … ich hab da noch einiges im Giftschrank, dagegen ist Kid A Mainstream Pop. Da fährt bei dir wohl das Hirn runter und schaltet sich einfach wegen Überforderung ab. :D

    • Vor 3 Jahren

      @ Souli: Coldplay haben sich weiterentwickelt, nur leider in die falsche Richtung...
      Die Tür in die Welt runtergespielter Stiefel über eingeschlafenen Füßen sicher durchschritten haben U2 vor 20 Jahren.

    • Vor 3 Jahren

      Weiterentwicklung in die falsche Richtung war und ist auch mein Credo.

  • Vor 3 Jahren

    Sehr coole Rezension! Ich hab RH mit IR angefangen wahrzunehmen und dann alles im Nachhinein gehört.. dann angefangen die Bonus Editionen in den fancy Boxen zu sammeln und schau mir öfter mal'n Live Konzert auf derem YT channel an..

    Hab die Band 2012 in Köln live gesehen und Thom solo vor ein paar Jahren in Frankfurt.. - Is wie Mogwai, Björk und Sigur Ros einfach so volle Kanne "THX dass ich das live miterleben durfte!!.."

    Und wenn ich grad mal kein Bock auf Menschen hab ist LSP Pulk/Pull (jetzt auch in den neuen Versionen) sofort auf der Playlist.. xD

  • Vor 3 Jahren

    Keine Ahnung, was daran schwierig zu hören oder gar "unhörbar" sein soll.

    Gleep würde jetzt hilfreicherweise ergänzen, daß man es mal mit dem Mute-Knopf oder der Lautstärkeregelung versuchen solle.

    Davon abgesehen empfinde ich bei den beiden Platten nix als sperrig. Damit verhält es sich vermutlich wie mit scharfem Essen. Gewöhnung, Geschmack usw. Was dem einen viel zu scharf, ist für den anderen kaum wahrnehmbar.

    • Vor 3 Jahren

      Dieser Kommentar wurde vor 3 Jahren durch den Autor entfernt.

    • Vor 3 Jahren

      Mir gehts da gleich. Ich war damals bei Erscheinen der Platte in keinster Weise enttäuscht, sondern bekam das Album, das ich erhofft hatte. Nach der musikalischen Entwicklung der Platten zuvor war m.E. sowas in der Art zu erwarten. Und ich höre hier n Haufen toller Songs. Musste mir da nix schönhören. Ich empfand den Bruch zwischen „The Bends“ und „OK Computer“ ehrlich gesagt als einschneidender.
      Aber das ist nur mein Empfinden