laut.de-Kritik
Spaß, Bass, Tanz, Sex, Politik und Innovationsarmut.
Review von Philipp KauseAuf "Live N Livin'" dominiert das pralle Leben. Sean Paul trotzt in seinen Lyrics allen Mindestabständen, zelebriert mit seinen zahlreichen Gästen twerkendes Tanzen auf Tuchfühlung zwischen Fremden, die namenlos "baby girl", "sexy body girl", "pretty face", "mamacita", "Miss Hotness" usw. heißen. Am Konzept des Jamaikaners bleibt also alles beim Alten.
Biographisch gesehen, ist der Longplayer auch ein Zeichen von Lebendigkeit: ein Statement, dass Sean Paul wieder eine dominantere Rolle ausfüllen will als die des passiven Feature-Gastes, der per Filetransfer irgendwo ein paar Zeilen beisteuert. Satte 36 solcher Einzelsong-Kollabos waren seit Seans eigenem letzten Album "Full Frequency" entstanden. Nun lädt der 48-Jährige als Gastgeber zur Party.
Stimmenvielfalt in Form einer gelungenen Mischung von Bugle bis Busy Signal wertet das homogen mixtape'ige "Live N Livin" massiv auf. Sean Paul markiert den roten Faden, performt aber nur drei Tracks alleine. Bei der Auswahl seiner Gäste berücksichtigte er Helden der Vergangenheit wie Mutabaruka und seine - still gewordenen - Kumpels Damian Marley und Mavado. Aus der Gegenwart holt er mehrmals seinen Bühnentänzer Chi Ching Ching ans Mikro, einen frischen, talentierten Sänger. Der elegante Dancehall-Kollege Govana mit tieftönendem Resonanzkörper ("Money Bag (ft. Govana)" wechselt mit den eher schlüpfrigen Goldkettchen-Youngsters Masicka (27, Mercedes-Liebhaber) und Skillibeng (24, gemäß Songtexten: Koks- und Whisky-Fan) ab.
Letzterer quasselt explizit über sein Geschlechtsteil in "Everest (ft. Masicka, Skillibeng)", was für einen peinlichen Ausklang sorgt: "Why yuh think dem gyal a pree fi / nyam mi penis / like a sweetie / mi flow dem wicked / throw weh liquid", zu Deutsch quasi "Warum denkt ihr, dass diese Mädels gucken / um an meinem Penis zu knabbern wie an einem süßen Bonbon? / ich fließe ganz geil / dorthin, wo die Flüssigkeit landet." Diese Zeile repräsentiert recht idealtypisch den momentanen Dancehall-Nachwuchs. Früher musste man bei VP vorspielen, um auf einem Riddim zu landen. Heute reicht ein Tiktok-Account. Echt jetzt: 21 Millionen Mal schon wurde der Penis-Poet auf Tiktok getaggt, trotz Mangel an Talent und Content.
Über die Nähe von Sean Paul-Musik zu männlichen Geschlechtsorganen berichteten wir bereits. Gehobenes lyrisches Level bringen dagegen ein paar Leute ein, die sonst für heftige Sozialkritik bekannt sind. Jesse Royal als ein reiner 'Roots'-Act vornedran. Bugle und Agent Sasco (Assassin) stehen für den Punkt, dass 'Roots'-Consciousness und Dancehall-Slackness mitnichten zwei zementierte getrennte Zonen sind – auch wenn Leute wie der jüngst verstorbene Bunny Wailer das oft gerne so darzustellen suchten und als Moralapostel die Reinheit der Rasta-Message überwachten. Heute verschwimmen die Bereiche wieder, was auch gut ist und das Gute an "Life N Livin'" ist. Warum sollten digitale Tanz-Beats nicht das perfekte Umfeld für wohl überlegtes Schießen gegen Korruption, Heuchelei, Selbsthass und Rassismus sein?
Bei "Guns Of Navarone" nimmt das Album daher eine interessante Kurve und präsentiert den ersten Anwärter auf den Reggae-Song 2021. Treibende Nummer, peitschende Laptop-Snare Drums, gute Grooves – wie überhaupt das ganze Werk unwiderstehlich groovt. Dazu ein Text voller Anspielungen. Statt hier nun einfach zu sagen, 'toll und gute Beats', lohnt ein tiefer gehender Blick. Der Name spielt auf den Kriegsfilm "Die Kanonen von Navarone" an, der mitten im Zweiten Weltkrieg im Mittelmeer spielt. Eine Geschichte von unklaren Fronten, Täuschung, Intrige, versehentlichem Verrat, Spionage nebst einer herausfordernden Natur als Setting. Eine weitere Ebene ist, dass dieser Film rauskam, als Jamaika gerade frisch gebackene "neue" unabhängige Nation wurde und die Filmmusik quasi zum Soundtrack der euphorisierenden Unabhängigkeit gehört.
Unklare Fronten und eine neo-koloniale Argumentationstechnik stecken derweil genau besehen auch im Hashtag #blacklivesmatter. Denn der Slogan und sein gedankliches Konzept verfestigen einen Logikfehler, als positiven Rassismus. Im Song greift der philosophierende Mutabaruka dieses Phänomen mit einer (zentralen) Frage auf: "How can a people be so traumatized / That they start to love them traumatic experiences?" Eine Abwandlung von Coolios Frage "How can we be so blind to see / that the ones we hurt are you and me?" Alt, aber aktuell geblieben.
Sean Paul hat sich genau diejenigen Gäste zusammen gesucht, die gegen die Schlüpfrigkeit der Insta-Jugend einen Credibility-Gegenpol setzen. Er moderiert das Ganze nur. Dabei sind die Positionen der vier Sozialkritiker interessant, weil sie gerade nicht in den üblichen #blacklivesmatter-Chorus einstimmen. Sammelt man deren Punkte, kracht ein bestimmtes Konstrukt (Diskriminierung wegen Hautfarbe an jeglichem Elend schuld) schnell zusammen. Für Bugle kann repräsentative Demokratie laut seinem letzten Album gar nicht funktionieren, wenn ein Großteil der "Repräsentierten" unterhalb jedes Menschlichkeits-Niveaus in verwahrlosten Ghettos haust, wo Gangs mit Waffen die Kontrolle übernehmen. Man nennt das Phänomen "Classism", auf Jamaika ein weitaus größeres Thema als "Racism".
Agent Sasco engagiert sich im Programm We Transform. Es integriert straffällige Jugendliche und stellt ihnen Aufgaben, aus deren Bewältigung sie Selbstwert schöpfen können. Sasco sieht einen hohen Stellenwert in der familiären Erziehung: Wieviel Anerkennung geben Eltern? Wie entgehen Kinder von Kriminellen der Schleife, selbst Straftäter zu werden? Seine Position: Alles Psychologie jedes Einzelnen! Meint einer, der Sean Paul durchaus bald an Relevanz überrunden könnte. Sascos Credo: Man sollte sich gar nicht auf Selbstmitleid ausruhen und in die Opferrolle drängen lassen, die gerade Lehrer des staatlichen Schulsystems Schülern schwächerer sozialer Schichten aufstülpen, umso mehr je dunkler die Hautfarbe. Die Reaktion müsse sein, an anderen Stellschrauben zu drehen. An dem was man selbst tun kann, statt die Mind-Sets von Leuten ändern zu wollen und vor allem: statt selbst auf 'self-fulfilling prophecies' reinzufallen.
Sean Paul und Mutabaruka - das könnte wirken wie Cardi B im Duett mit Erykah Badu - geht aber gut auf. Mutabaruka arbeitet gerne die geschichtliche Beziehung zwischen Afrika und Afroamerika heraus. Er analysiert in den heutigen USA die kolonialen Strukturen. Obwohl die USA nie wirkliche Kolonialmacht waren, benutzen sie heute 'People of Color' strukturell für den Niedriglohnsektor. Jamaika ist aber nicht automatisch genauso; man kann Rassismus nicht, wie es gerade passiert, von den USA (oder irgendeinem konkreten Land) pauschal auf die gesamte Welt ableiten. Jesse Royal, 16 Jahre jünger als Sean Paul, hat sich derweil einem US-Label zugewandt und demonstriert seit einer Mixtape-Kollabo mit Walshy Fire, die Welt liege ihm zu Füßen. Statt als Opfer zeichnet er sich gerne als Bibel zitierender stolzer Visionär, der einen Schlussstrich zieht und als Teil einer neuen Generation neu anfangen will.
Dass so viele starke Persönlichkeiten Sean auf seinem eigenen Album ins Abseits drängen, führt zu einem komischen, bizarren Effekt: Sein Longplayer dient als Sampler. Diese Quasi-Compilation spannt unvereinbare Extreme des gesamten Offbeat-Zirkus unter einem Dach zusammen.
Am meisten brennen sich dabei das melodramatische, basslastige "Guns Of Navarone", der heftig in den Boxen vibrierende Remix "I'm Sanctify (ft. Mavado, Agent Sasco)", das dubsteppig-elektrisch geladene "Danger Zone (ft. Bugle, Sotto Bless)", der stimmungsvolle Dance-Pop des Titelsongs und der bubbelig pulsierende HipHop-Verschnitt "Schedule (ft. Damian Marley, Chi Ching Ching)" ein. Alles mit durchgehender Tanzgarantie.
2 Kommentare
Ist tatsächlich ganz gut geworden. Die ganz großen Banger bleiben zwar aus, aber immerhin scheint er die Telefonnummer von David Guetta verloren zu haben!
Ich dachte, der wär längst tot!