laut.de-Kritik

Ein Wechselbad der Gefühle, mit dem nicht zu rechnen war.

Review von

Anfang März hieß es auf Sleep Tokens Social-Media-Kanälen: "Prepare for a new offering". Dazu der düstere Clip eines Flamingos im Blumenbeet, erste Klänge aus dem Album – und die Fans flippten aus. Ein paar Rätsel später rückten die Briten dann die ersten Songs heraus, und auch ich war hooked. Doch beim dritten befielen mich erste Zweifel.

"Damocles" hatte nichts, was ich an Sleep Token liebe. In welche Richtung wird das Album also gehen? Blickt man auf ihr neues Label RCA Records: in Richtung Mainstream. Bis auf Tool scheint dort keine Metalband unter Vertrag zu stehen – obwohl es einem Sleep Token zugegeben schwerer und schwerer machen, sie in das Genre einzuordnen.

Ein bisschen Metal folgt aber direkt im Opener "Look To Windward". Sleep Token spannen ihre Fans mit einem langen Synthie-Intro auf die Folter, bevor Vessel einsteigt und immer wieder beschwörend "Will you haunt this eclipse with me?" wiederholt. Gerade als man sich fragt, was jetzt noch kommt, kriegt man einen Breakdown vor den Latz geknallt. Damit aber nicht genug. Der schönste Part des Songs folgt auf die obligatorische Rap-Einlage: Zu Klavierbegleitung trällert sich Vessel in höchster Stimmlage in die Herzen der Fans.

In "Emergence" verbinden Sleep Token die verschiedenen Elemente schlüssiger. Alles ist smooth, ergibt direkt Sinn und zeigt die Stärken auf: die perfekte erste Single, genau wie "The Summoning" vor zwei Jahren. Gleichwohl hätte man im Studio weniger die Vocals bearbeiten sollen: Vessel hat das nicht nötig, wie er regelmäßig auf Konzerten beweist.

Doch auch er bleibt nicht fehlerfrei. Reden wir nicht lange drumrum: "Past Self" hätte im Ideen-Ordner bleiben dürfen, ein Mix aus Weihnachtsgebimmel und Trap? Ähm, nichts für mich, danke. "Dangerous" macht es wieder gut: Sleep Token pur, der Song wirkt mühelos, so, als hätte ihn der maskierte Brite in einem Rutsch runtergeschrieben. "Caramel" schlägt einen anderen Weg ein. Reggaeton trifft auf Metal? Was sich exotisch anhört, klingt im Endergebnis unerwartet geschmeidig.

Der Titeltrack beweist dann, dass die Schönheit zuweilen im Einfachen liegt: Der raue Schrei gegen Ende, gefolgt von tieftraurigen Streichern lässt die Hörerschaft näher an die maskierte Bühnenpersona heranrücken, es wirkt fast schon verletzlich. Für mich der größte Gänsehaut-Moment seit Langem. Gäbe es von "Even in Arcadia" eine Akustikversion, hätte es "Atlantic"-Potenzial.

Auf "Provider" präsentieren sich Sleep Token ein gutes Stück lang als die Hornycore-Band, als die sie unser Metal-Kolumnist gerne bezeichnet. Bis dahin muss man sich allerdings erst mal durch das Intro kämpfen, in dem Vessel fleißig vor sich hin reimt. Beim "Gethsemane"-Intro denkt man wiederum, man hätte sich in einen Song von Novo Amor verirrt. Das folgende Gitarrengefrickel stiftet ebenfalls Verwirrung. Etwa ab der Hälfte des Tracks scheinen wieder Sleep Token durch. Aber die Vocals bitte lieber in ihrer ursprünglichen Form belassen! Danke.

Und als hätten sie mich erhört, klingt der Anfang von "Infinite Baths" gleich viel besser, ein schöner Rausschmeißer. Vessel lässt am Mikro noch mal seine inneren Dämonen raus, und die Instrumente krachen gewaltig. So haben wir das gerne.

Zoomt man zum Schluss aus der Platte heraus, wirkt das Album aber leider schwächer als sein Vorgänger. Zu oft verlieren sich Sleep Token in Spielereien. Doch es gibt auch die starken Momente wie "Emergence", "Even In Arcadia" oder "Infinite Baths". Zurück bleibt ein Wechselbad der Gefühle, das ich so nicht erwartet habe. Auf die nächste Tour gehe ich trotzdem – sollte mir der Rest der Fangemeinde ein Ticket übrig lassen.

Trackliste

  1. 1. Look To Windward
  2. 2. Emergence
  3. 3. Past Self
  4. 4. Dangerous
  5. 5. Caramel
  6. 6. Even In Arcadia
  7. 7. Provider
  8. 8. Damocles
  9. 9. Gethsemane
  10. 10. Infinite Baths

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12 Kommentare mit 12 Antworten

  • Vor einem Tag

    Sleep Token hat nie behauptet Metal zu sein... Und doch das ganze Album klingt nach Sleep Token. Vielleicht kann man keine Verbindung zu der Musik aufbauen, weil man verzweifelt versucht alles in Schubladen zu stopfen und den Schmerz den Vessel uns offenbart nicht kennt. Ist ja auch alles cool aber hate und falsche "Fakten" sind uncool.

  • Vor einem Tag

    Hab jetzt mal etewas intensiver durchgehört. In den poppigen Patts gefallen sie mir durchaus; sämtliche Härte wirkt dagegen meist langweilig, aufgesetzt, plakativ. Gesang zuweilen etwas übertrieben meolodramatisch, aber gut, man muss die Zielgruppe der kreischenden 14-jährigen ja auch bedienen. In zwei drei Alben weiß die Band vielleicht, was sie will.

    • Vor einem Tag

      In zwei-drei Jahren sind die meisten Fans halt 16-17, und werden sich eher für ihren alten Geschmack schämen. Vielleicht klappts ja wie bei Tokio Hotel, und in noch mal 15-20 Jahren bekommen die Fans von heute eine irre Nostalgiephase. Dann eben, während sie in den unterirdischen Bunkern auf ihre Wasser- und Lebensmittelrationen warten.

    • Vor 12 Stunden

      Ich mag den Ansatz und den Gernemix sehr, aber es ist alles etwas zu überkandidelt. Wenn Horst (find ich stark, werde ich übernehmen und dabei immer leise "by Schwingster" flüstern) so gut singen kann, warum muss die Stimme dann so honigsüß bearbeitet werden?
      Ansonsten ist die Fanbase in der Tat so unangenehm, dass ich nur in ausgewählten Kreisen zugeben würde, die Band zu hören. Es ist absurd peinlich.

    • Vor 11 Stunden

      @Ragi: Tokio Hotel-Fans unterstelle ich zu viel Dunning-Kruger, als dass sie in der Lage wären, sich von ihrem vergangenen Selbst zu distanzieren. Ehem. Linkin Park Fans passen vielleicht eher in die von dir vorgelegte Schablone.

  • Vor einem Tag

    Da schlafen mir schon beim Zuhören die Füße ein