laut.de-Kritik
Versicherung und Eigenheim? Scheiß' drauf!
Review von Laura SprengerWer Swiss' musikalischen Werdegang in den letzten Jahren aus den Augen verlor, wird den Hamburger auf "Grosse Freiheit" kaum wiedererkennen. Was sich bei der "Schwarz Rot Braun"-EP vergangenen Herbst bereits abzeichnete, setzt seinen Lauf unmissverständlich fort: Swiss baut, was den Sound betrifft, mittlerweile auf Live-Gitarren, Bässe und Drums statt auf Beats. Auch wenn Sprechgesang weiterhin ein Fundament seiner Tracks bildet, dominieren jetzt Gesang beziehungsweise Gegröle und ganz viel Krach.
So klingt das zumindest in den Ohren eines Hip Hop-Fans, aber man will ja nicht engstirnig sein. Geben wir dem "neuen" Swiss also eine Chance und steigen ein in seinen "Bipolar-Express". Auf "Grosse Freiheit" kommen weder tiefe Gefühle noch ausgelassene Feierei zu kurz: "Der Scheiss Is' Live" als Opener, "Punk Zurück" und "Fick Dich" gestalten sich lyrisch zwar eher einfach gestrickt, funktionieren auf und vor der Bühne aber zweifellos perfekt: "Wenn ihr missglückt seid und euch nach dem Ende sehnt, dann will ich alle eure gottverdammten Hände seh'n ..."
Natürlich ist Punk mehr als nur "Mittelfinger hoch und die Hand im Schritt", und auch wenn Swiss hier und da eine unglückliche Phrase einwirft ("Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich so ungeniert"), bestehen an der Authentizität seiner Einstellung keine Zweifel: "In meinem Leben is' nix sicher, doch ich schwör' dir, ich will es genau so!" Eigenheim? Macht unmobil. Versicherung? Scheiß' doch drauf.
"Jetzt haben wir 'nen Bausparvertrag und eine blöde Fotze, die Til Schweiger mag / Jetzt häng' ich auf der Couch und schaue Frauentausch / Langsam merke ich: Ich muss hier nur noch raus!" "Vermisse Dich", das schon Teil der vorausgehenden EP war, thematisiert Swiss' Horror-Vorstellung vom spießbürgerlichen Leben. Vielen mag sein Kampf gegen den von der Gesellschaft vorgezeichneten Weg naiv und blauäugig vorkommen, aber gerade das trägt zu seinem hohen Sympathie-Faktor bei.
Die durchaus poetischen Texte übertreten die Grenze zu Pathos und Kitsch zum Glück nur selten. Den Titeltrack widmet Swiss seiner großen Liebe Hamburg und schlägt zu diesem Zweck etwas leisere Töne an: "Du lässt mich ziehen, denn so macht das eine Seemannsbraut / Du bist mein Nordlicht, das immer auf mein' Weg vertraut / Du weißt, ich komm' zu dir zurück und ich geb' ein aus / Du bist mein Hamburg, der Leuchtturm in mei'm Lebenslauf."
Die zweite Hälfte von "Grosse Freiheit" verliert dann leider an Fahrt: "Immer Noch", auf dem Swiss einer verflossenen Liebe hinterhertrauert, geht spätestens nach dem dritten Durchgang auf die Nerven, und "Für Dich Kämpfen" mit Joachim Witt hinterlässt einen altbackenen und ungewohnt pathosgeschwängerten Nachgeschmack. Swiss' Träume von einer Welt, in der alle gleich und frei miteinander leben, erfüllen sich wohl auch nicht dem "Punkah auf Sri Lanka"; Inselfeeling macht sich dank des schleppenden Reggae-Sounds aber trotzdem breit.
Den Höhepunkt freilich hat sich Swiss fürs Finale aufgehoben: "Asche Zu Staub" erweist sich als Seelen-Striptease par excellence. "Wo ist der Mensch, der mich umarmt und sagt 'Ich zähl' auf dich'? Denn ich zähl' nicht auf mich, zu oft hab' ich mich schon verzählt." Seine Tablettensucht, die enttäuschten Eltern oder seine Erfolglosigkeit – Swiss nimmt kein Blatt vor den Mund.
"Ich brauch' kein Zuspruch, Mitleid brauch' ich auch keins / Ich will nur diesen Moment alleine traurig sein." Für Hater sicher ein willkommener Anlass zum Stänkern, das Prädikat "Mutig" wäre aber weitaus angebrachter: "Grosse Freiheit" klingt trotz kleiner Schwächen nach einer Herzensangelegenheit und macht, hat man sich erst einmal an den Sound gewöhnt, hin und wieder sogar richtig Spaß.
1 Kommentar
Liebe Frau Sprenger,
Sie hätten sich ruhig mal die Zeit nehmen können, die Premium Edition durchzuhören, denn die enthält 4 weitere Tracks und 3 Skits. Einfach ein Muss, um in die Missglückte Welt von Swiss einzutauchen!
Spätestens beim 2. Durchlauf wird man in den Bann gezogen und kommt da so schnell nicht mehr raus, ob man will oder nicht. Der Sound ist frisch und unverwechselbar, die Texte mal hart und dann wunderschön. Die Platte ist in meinen Ohren ein echtes Stück deutsche Kunst (sehr interessant ist der Skit "Kunst in Deutschland", besser kann man es nicht auf den Punkt bringen)!
Ich kann nur allen empfehlen, sich dieses Werk zumindest EINMAL komplett anzuhören. Ihr werdet nicht enttäuscht sein...
5/5 für Hamburgs derzeit beste Band