laut.de-Kritik
Nach 50 Jahren endlich mit den sensationellen Esher Demos.
Review von Giuliano BenassiAuf die Frage, welches Album der Beatles das beste sei, lautet die Antwort meistens: "Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band". Sicherlich keine falsche Wahl, angesichts des Einflusses, den die Platte hatte, von Stücken wie "Lucy In The Sky With Diamonds" oder "A Day In The Life" ganz abgesehen.
Wer sich für die Menschen hinter den größten Popstars aller Zeiten interessiert, wird vermutlich eher das Nachfolgealbum in Erwägung ziehen. Das an sich keinen Namen hat und deshalb als "The Beatles" oder "White Album" bekannt ist, wegen der Gestaltung des ursprünglichen Covers.
Zwischen den zwei Werken liegen ereignisreiche 18 Monate. "Sgt. Pepper's" war im Mai 1967 erschienen und wie eine Bombe eingeschlagen. Mit "All You Need Is Love", das sich nicht auf dem Album befand, boten die Beatles am 25. Mai den Höhepunkt der ersten Fernsehsendung, die weltweit ausgestrahlt wurde. Im Sommer 1967 waren sie die Greatest of all Time - ein Spruch, der eigentlich Mohammed Ali galt.
Dann folgten zwei Ereignisse, die ihre vergleichsweise heile Welt aus den Fugen brachte: Ende August besuchten sie ein Meditationswochenende des zwielichtigen indischen Popguru Maharishi Mahesh Yogi. Währenddessen starb ihr Manager Brian Epstein, dem sie einen großen Teil ihres Erfolgs verdankten. Ohne ihn hätte es die Beatles in der Form, wie wir sie kennen, nicht gegeben.
In finanzieller Hinsicht waren die Folgen katastrophal. Statt einen Profi anzuheuern, bündelten sie eine Vielzahl an geschäftlichen Aktivitäten in einer Firma namens Apple, die sie selbst führten und die von Beginn an eine Geldvernichtungsmaschine war. Ihr Seelenheil den Finanzen vorziehend, reisten sie nach Abschluss der Nebenprojekte "Yellow Submarine" und "Magical Mystery Tour" nach Indien.
Ihren Aufenthalt auf dem Ashram Maheshs in Rishikesh im Frühjahr 1968 bewerteten die Mitglieder unterschiedlich. Positiv war auf jeden Fall, das sie zum ersten Mal die Möglichkeit hatten, Songs zu schreiben, ohne dem Druck ihres Managers standhalten zu müssen, das nächste Monsteralbum abzuliefern. Künstlerisch blühten sie also auf. Zumindest Paul McCartney, John Lennon und George Harrison, denn Ringo Starr war und blieb der (fähige) Schlagzeuger und (lustige) Grimassenschneider.
Harrison, der den Trip nach Indien am ernstesten nahm, hatte gemeinsames Musizieren untersagt. Als alle wieder zurück waren, lud der Gitarrist auf sein Anwesen Kinfauns in Esher, nordöstlich von London, um das Material zu besprechen. Ende Mai, vermutlich am 27. und 28., nahmen die Fab Four 27 Stücke auf, die die Grundlage für das nächste Album bilden sollten.
27 Stücke an zwei Tagen, vielleicht sogar nur einem - Wahnsinn. Und dazu in einer Qualität, die heute noch Respekt abnötigt. Mit einem professionellen Vierspurgerät ausgestattet und offenbar auch der Fähigkeit, es zu bedienen, nahmen sie nicht lediglich Demos auf, sondern arbeiteten auch an den Arrangements und Begleitstimmen. Lediglich Starr musste auf sein Schlagzeug verzichten und klopfte auf dem herum, was zur Verfügung stand, darunter ein Tamburin.
Harrison ließ Kopien der Aufnahmen für seine Kollegen anfertigen, die recht schnell den Weg in den Bootleg-Markt fanden, weshalb die Esher-Demos nicht gänzlich unbekannt sind. Sieben Stücke waren 1996 schon auf "Anthology 3" zu hören, nun liegen sie zum ersten Mal in offizieller Form komplett vor, natürlich restauriert und klanglich aufgearbeitet.
Das Ergebnis begeistert. Man meint, mittendrin zu sein, während McCartney mit "Ob-La-Di, Ob-La-Da" einen seiner schlimmsten und mit "Blackbird" einen seiner besten Songs präsentiert. Lennon, der mit 15 Stücken das meiste Material beisteuerte, rührt mit einer Ode an seine verstorbene Mutter "Julia", experimentiert klanglich und textlich in "Happiness Is A Warm Gun", rechnet in "Sexy Sadie" mit Mahesh ab und in "Glass Onion" mit jenen Fans, die mysteriöse Botschaften in seine Texte dichteten.
Harrison dagegen übte sich als Rebell: "While My Guitar Gently Weeps" klingt anders als jeder Beatles-Song zuvor und sollte sein erster großer Erfolg werden. Auch mit "Piggies" und "Savoy Truffle" zeigte er gute Momente. Nur, um einige Stücke fast zufällig zu erwähnen, denn jedes hat eine Geschichte, die man erzählen könnte (wie es der Rolling Stone lesenswert getan hat).
Nicht alle schafften es auf das fertige Produkt. Am prominentesten Lennons "Child Of Nature", das 1971 mit einem neuen Text und Titel auf seinem Album "Imagine" erschien, aber musikalisch schon sehr ähnlich klingt: "Jealous Guy". Oder "Mean Mr. Mustard" und "Polythene Pam", die 1969 auf "Abbey Road" landeten. McCartney verwendete "Junk" auf seinem Solodebüt 1970, Harrison wartete bis 1979 beziehungsweise 1980, um "Not Guilty" und "Circles" zu entstauben.
Ungleich zäher als die Sessions verliefen die gleich im Anschluss begonnenen Aufnahmen des Albums, die viereinhalb Monate in Anspruch nahmen und als der Anfang des (schnellen) Ende der Band gelten. Die Gruppendynamik war anders als früher. Nur die Beatles konnten es sich leisten, die Abbey Road Studios für einen so langen Zeitraum in Beschlag zu nehmen. Produzent George Martin, der wohl wichtigste aller "fünften Beatles", war zwischendrin so genervt, dass er drei Wochen in den Urlaub ging. Tontechniker Geoff Emerick schmiss gar komplett das Handtuch.
Der prominenteste Abgang war jedoch der Starrs. Am 22. August reichte er seine Kündigung ein und begab sich gefühlt ans andere Ende der Welt, nämlich auf das Segelboot des Schauspielers Peter Sellers, das vor der Küste Sardiniens ankerte. Dort erholte er sich von den unendlichen Studiosessions, musste jedoch einen weiteren Tiefpunkt verkraften, als er an Bord statt der bestellten Fish and Chips Tintenfisch mit Kartoffeln serviert bekam.
Die Geschichte, die ihm der Kapitän dazu erzählte, ließ ihn zur Gitarre greifen und sein erstes Stück seit Ewigkeiten schreiben, "Octopus' Garden". Besonders spannend schien es ansonsten nicht zu sein, denn nach zwei Wochen war er doch wieder an der Abbey Road, nachdem ihm McCartney, Harrison und Lennon ein Telegramm geschickt hatten: "You're the best rock'n'roll drummer in the world. Come on home, we love you".
"Octopus' Garden" landete auf "Abbey Road", dafür durfte er auf dem "White Album" einen Song unterbringen, den er bereits 1962 geschrieben hatte, "Don't Pass Me By", und das abschließende "Good Night" einsingen. Am bekanntesten ist wohl aber sein frustrierter Spruch"I got blisters on my fingers!" am Ende des Proto-Hardrock-Stücks "Helter Skelter".
Giles Martin, Sohn des großen George, der diese Neuausgabe betreute, zeichnet überraschenderweise ein harmonischen Bild der Sessions. Klar, dass es Spannungen gab (auch weil Yoko Ono nicht von der Seite Lennons wich), doch das Klima sei eher freundschaftlich und durchwegs kreativ gewesen. Es wurde viel gefrotzelt und gelacht.
Die Aussage Lennons in einem seiner besten Songs auf dem Album, "I'm So Tired", dürfte trotzdem zutreffen: "I'd give you everything I've got / For a little peace of mind." In den Nächten, in denen er nicht schlafen konnte, schnippelte und klebte er Tonbänder zusammen. Das Ergebnis "Revolution 9" war die Blaupause für die ersten Soloalben, die er in den folgenden Monaten mit seiner großen Liebe Ono veröffentlichte.
Als das "White Album" am 22. November 1968 erschien, wenige Wochen nach Ende der Sessions, waren die Reaktionen gemischt. Klar, der Unterschied zu "Sgt. Pepper's" war riesig, doch das sei auch so gewollt gewesen, erklärte zumindest Lennon. Erfolgreich war das unüblich umfangreiche Album - 30 Stücke auf zwei LPs - dennoch und erreichte weltweit die Spitze der Charts.
Selbst wer es in- und auswendig kennt, hat an dieser Ausgabe seine Freude. Die Super Deluxe-Ausgabe besteht aus sechs CDs und einer Blu-ray mit vielen Alternative Takes, von denen die "Anthology 3" bereits eine gute Auswahl bot. Eine Nummer kleiner, aber völlig ausreichend, ist die Deluxe-Ausgabe, die alle 27 Aufnahmen der "Esher Demos" beinhaltet. Und das neu abgemischte Original-Album mit vielen Aha-Momenten, wie der sensationelle Basslauf McCartneys in "Glass Onion" oder die fein herausgestellte Gitarrenparts Eric Claptons in "While My Guitar Gently Weeps".
Auch 50 Jahre nach der Erstveröffentlichung ein Album für die Ewigkeit, das in der Vinyl-Version mit vier LPs besonders gut zur Geltung kommt. Und dazu einlädt, die vielen kleinen und großen Geschichten hinter den Liedern zu erforschen.
2 Kommentare mit 8 Antworten
Kannte die Band noch nicht und bin begeistert! So muss Musik 2018 klingen.
Ja vier aufstrebende Jungs aus Liverpool. Aus denen wird noch was.
Man munkelt, dass für nächstes Jahr ein Soundtrack und ein neues Album unter dem Titel "Abbey Road" ansteht.
Das Vintage-Cover schreit aber nach Indie-Hipsters!
Sehen schon echt scheiße aus die Jungs!
Wannabe Oasis
Oasis? Nie gehört.
https://external-preview.redd.it/_lUlEUIgU…
Ich hätte die Esher Demos so gerne, will aber dafür mir nicht noch einmal das komplette Album holen. Ich hab das schon auf LP und CD. Wäre toll wenn diese Demos als seperater Download erscheinen würde. Aber das bleibt wohl ein Traum. Der neue "Verwalter" Giles Martin braucht halt Geld und Paul kriegt ja auch nicht wenig.
Ich bin nur auf 2020 gespannt wenn hoffentlich endlich der Let it be Film rauskommt. Paul hat's ja angekündigt.
Schreib mir mal an lightnin[at]web.de. Da ließe sich was machen
Vielleicht erscheinen die ja noch als seperater Download oder ich hol mir die gebraucht, irgendwann später