laut.de-Kritik

Lennons Pop-Klassiker, mit neuem Klangbild besser denn je.

Review von

Ende der 1960er Jahre verlor John Lennon die Orientierung. War es der nie dagewesene Erfolg der Beatles? Finanzielle Schwierigkeiten aufgrund abenteuerlicher Projekte? Traumata aus der Kindheit? Yoko Ono? Vermutlich eine Mischung aus alledem, mit freundlicher Unterstützung verschiedener Drogen.

Heutzutage würde man sagen, dass er einen Burnout hatte. Und sich neu erfinden musste. So legte er auf seinem ersten richtigen Soloalbum "Plastic Ono Band" sein Seelenleben offen. "God is a concept by which we measure our pain", sang er dort. Tiefgründige Gedankengänge für einen Rockstar. Oder besser: den größten Rockstar aller Zeiten. Zumindest 1970.

Gemessen an den Alben der aufgelösten Beatles, und vor allem der Ex-Beatles, hielt sich der kommerzielle Erfolg allerdings in Grenzen, was Lennon wurmte. Also legte er sich kurz nach der Veröffentlichung ins Zeug, um sie alle zu übertrumpfen. Sein musikalisches Genie zeigt sich im Titeltrack, ein Anti-alles-Song, wie er ihn später selbst bezeichnete, aber so zuckersüß verpackt, dass er zu seinem Signature-Track wurde, einer der bekanntesten Pop-Songs überhaupt.

In einer Kiste mit all den Bändern, die bei der Entstehung des Albums zusammen kamen, befand sich eine 2016 entdeckte Demoaufnahme, die nun zum ersten Mal zu hören ist. Ergreifend, wie Lennon das Stück alleine am Klavier vorträgt, im selben nackten Stil, den "Plastic Ono Band" auszeichnet. "Imagine there's no heaven, it isn't hard to do / nothing to kill or die for / and no religion, too". Zeilen, die ein revolutionäres Potential besitzen, in der endgültigen Fassung Phil Spectors mit sülzigen Streichern aber nicht mehr dieselbe Wirkung entfalteten.

Genau das ist der Schwachpunkt des Albums - eine Überproduktion, die vom Wesen der Stücke ablenkt. Auch wenn Lennon später davon Abstand nahm, war es genau das, wonach er suchte. Die ersten Aufnahmen fanden auf seinem Anwesen in Tittenhurst westlich von London statt, später ging er mit Ono nach New York, wo die meisten Stücke neu aufgenommen und "veredelt" wurden. Mit Streichern, aber auch mit wilden Einlagen des Saxophonisten King Curtis, der wenige Monate später einen gewalttätigen Tod vor seiner Haustür fand. New York war damals ein gefährlicher Ort.

Der zweite Evergreen des Albums ist "Jealous Guy". Ein Stück, das sicherlich autobiographische Züge trägt, aber bereits 1968 entstanden war, als Lennon mit den restlichen Beatles und weiterer Showbiz-Prominenz in Indien von Maharishi Mahesh Yogi übers Ohr gehauen wurde. Ein gern gecovertes Stück, das Bryan Ferry wunderbar interpretierte. Trotz der Aufarbeitung seiner persönlichen Probleme blitzt Lennons sarkastische Seite immer wieder durch. Am stärksten in "How Do You Feel", einer bitteren Abrechnung mit Paul McCartney, den er als Trittbrettfahrer und minderwertigen Songschreiber darstellt ("The only thing you done was yesterday / And since you've gone you're just another day").

Harter Tobak, zumal George Harrison darauf das Solo spielt. Das Ende der Beatles hatte offenbar bei allen Beteiligten tiefe Wunden hinterlassen. Jahre später erkannte Lennon, dass er gleichzeitig sich selbst beschrieben hatte. Das Stück sei eigentlich eine Art Battle gewesen, in der Annahme, dass McCartney auf seinem nächsten Album zurückschlagen würde. Tat er aber nicht.

So richtig abgeschlossen hatte Lennon mit den Beatles eh nicht. Das fröhliche abschließende "Oh Yoko" war ebenfalls in Indien entstanden, "Gimme Some Truth" bei den "Let It Be"-Sessions, "Oh My Love" in der "White Album"-Phase. Das countryeske "Crippled Inside" enthält einen weiteren Seitenhieb in Richtung McCartney ("You can live a lie until you die"), einige Passagen aus "It's So Hard" und "Gimme Some Truth" hätten auch auf "Abbey Road" sein können.

Lennon hatte nicht nur den Frieden, sondern auch den Krieg im Blick, wie er auf "I Don't Wanna Be A Soldier I Don't Wanna Die" zeigt. Ein Stück, das die Botschaft schon im Titel enthält, weshalb die jamsessionartigen sechs Minuten, in denen er sie wiederholt, zu lang geraten. "How can I go forward when I don't know which way to turn?", fragt er demnach nicht unpassend in der Klavierballade "How", die noch überfrachteter klingt als der Titeltrack.

Nur einige Punkte, die aufzeigen, dass das Album sicherlich nicht perfekt ist. Trotzdem bleibt es zurecht eines der bekanntesten der Popgeschichte. Was auch für das Cover gilt, das von Andy Warhol stammt. Ziel erreicht, denn Lennon landete damit in vielen Ländern auf Platz eins der Charts. Auch dank der großartigen Arbeit am Klavier von Nicky Hopkins.

All das und vieles mehr lässt sich wunderbar an dieser Neuauflage entdecken, die Ono 47 Jahre nach der Erstveröffentlichung selbst kuratiert hat. Die Super Deluxe-Ausgabe enthält neben 140 Stücken auf vier CDs und zwei Bluray-Discs auch zwei Filme, die während der Sessions entstanden sind, sowie eine Dokumentation, die die Entwicklung jedes Stücks nachvollzieht. Und das drittpopulärste Lied Lennons (und Onos), "Happy Xmas (War Is Over)", das ebenfalls 1971 entstand, aber erst nach Veröffentlichung des Albums.

Der Klang ist selbstredend hervorragend, selbst beim originaltreuen Mix, der schon immer etwas stumpf wirkte. Wie viel Arbeit Paul Hicks in den Londoner Abbey Road Studios in die Aufarbeitung der Originaltapes und die Neuabmischung aller Tonspuren steckte, lässt sich nur erahnen. Ono hatte die Idee, dieselben Spuren klarer abzumischen, was in der Tat gelungen ist. Wer eine quadrophonische Anlage besitzt, darf sich zudem freuen, dass die Super Deluxe-Ausgabe eine ebenfalls neue Version für diese eher exotische Technik bereit stellt.

"'Imagine' entstand mit viel Liebe, Sorge und Zuneigung für alle Kinder dieser Welt"; erklärt Yoko Ono im Vorwort. "Ich hoffe, es gefällt euch". Tut es.

Trackliste

  1. 1. LP1=LP 1
  2. 2. Imagine
  3. 3. Crippled Inside
  4. 4. Jealous Guy
  5. 5. It's So Hard
  6. 6. I Don't Wanna Be A Soldier Mama I Don’t Wanna Die
  7. 7. Gimme Some Truth
  8. 8. Oh My Love
  9. 9. How Do You Sleep?
  10. 10. How?
  11. 11. Oh Yoko!
  12. 12. LP2=LP 2 The Ultimate Mixes
  13. 13. Imagine (demo)
  14. 14. Imagine (Take 1)
  15. 15. Crippled Inside (Take 3)
  16. 16. Crippled Inside (Take 6 alt guitar solo)
  17. 17. Jealous Guy (Take 9)
  18. 18. It's So Hard (Take 6)
  19. 19. I Don't Wanna Be A Soldier Mama I Don't Wanna Die (Take 11)
  20. 20. Gimme Some Truth (Take4)
  21. 21. Oh My Love (Take 6)
  22. 22. How Do You Sleep? (Takes 1 & 2)
  23. 23. How? (Take 31)
  24. 24. Oh Yoko! (Bahamas 1969)

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9 Kommentare mit 6 Antworten

  • Vor 6 Jahren

    Der neue Mix klingt wirklich sehr gelungen. Habe auf Facebook auch sehr interessiert die veröffentlichten Sessionvideos verfolgt. Tolle Einblicke!
    Ich selbst hab die Liebe zu den Beatles und insbesondere John Lennon von meinem Vater 'geerbt' und durch diese Veröffentlichung daran erinnert zu werden, mal wieder häufiger Lennons Musik zu hören, freut mich auch sehr. Das Imagine-Album hat mich durch einige Lebenskrisen begleitet und ist für mich wirklich sehr speziell. Das wundervolle "Oh Yoko!" oder das tieftraurige "Jealous Guy" sind Songs für die Ewigkeit und auch "Crippled Inside" ist eines meiner Lieblingslieder.
    Insbesondere gebe ich dem Rezensenten aber wegen "How do you sleep?" recht: ich habe mich beim Hören des Liedes immer sehr unwohl gefühlt, weil John eben einmalig darin war, seine Emotionen durch seine Musik zu transportieren und dieses Stück, nun, einfach... bösartig ist und Paul das so schlicht nicht verdient hatte. Insbesondere die Videoaufnahmen von den Sessions mit George im Studio fühlen sich sehr merkwürdig an. Natürlich aber auch ein zeithistorisches Dokument. Ich gebe sogar zu, dass die nun veröffentlichten unterschiedlichen Takes davon ziemlich gut sind und ich "How do you sleep?" nun auch musikalisch deutlich mehr abgewinnen kann. Schon cool, wie der einmalige Klaus Voormann da so gechillt im Stuhl lümmelt und dabei den Bass zupft.

    https://www.youtube.com/watch?v=FoJQAyrUHhA

    Am Ende des Tages bleibt man mit Wehmut zurück, weil Johns Tod nach wie vor sehr schmerzt und so, so unnötig gewesen ist. Mein Dank gilt daher Yoko, der hier wirklich ein feiner Coup mit dieser Collection gelungen ist. Für Fans ein absolutes Muss!