laut.de-Kritik

Endlich mit sich selbst im Reinen.

Review von

Was durfte man sich seit der Veröffentlichung von "Flower Boy" (wegen eines Leaks sogar schon vorher) bereits alles über Tyler The Creator anhören! Um sein Album ging es dabei nur selten. Musik- oder Boulevard-Journalisten stürzten sich vor allem auf einige wenige Textzeilen, in denen Tyler sich zum ersten Mal offen zu seiner Homosexualität bekennt. Zugegeben, angesichts seiner bisherigen homophoben Äußerungen fällt schwer, nicht kurz zu mutmaßen, ob es sich vielleicht doch um einen gigantischen Trollversuch handelt. Hier soll es nun aber nicht um Spekulationen gehen, sondern darum, womit der Kalifornier überzeugt: um seine Musik.

Zuallererst fällt auf: Mit seinen frühen Alben hat "Flower Boy" nur noch wenig zu tun. Es gibt keine reduzierten, düsteren Beats mehr, wie sie vor allem "Bastard", "Goblin" und "Wolf" prägten. Stattdessen hat Tyler seinen Sound gefunden und besinnt sich auf Produktionen, die man in ähnlicher Form schon auf dem teils großartigen "Cherry Bomb" hörte.

Der Verzicht auf die durchwachsenen Noise-Passagen vom Vorgänger resultiert in einem sehr homogenen Klangbild, bei dem die Abwechslung dennoch nicht zu kurz kommt. Fast alle Songs erscheinen unglaublich dicht komponiert und klingen erfrischend organisch. Damit bedient Tyler eine eigene Nische, die seine Stärken zum Vorschein bringt.

Exemplarisch für die Musikalität, die das Album auszeichnet, steht "Garden Shed". Man hört sanfte und härtere Gitarrenklänge, sphärische Keyboards, eine glänzend aufgelegte Estelle und einen ungewohnt persönlichen Tyler, der offen über seine Sexualität rappt. Der erste, ausschließlich gesungene Teil des Tracks unterscheidet sich in seiner Intensität dabei stark vom zweiten, gerappten.

Die Intensität baut sich zu Beginn recht gemächlich auf, nur um zur Mitte hin nach einem kurzen, explosiven Gitarrenriff im abschließenden, befreiend wirkenden Rap-Part zu münden. Dass der Odd Future-Gründer hier tatsächlich von eigenen Erfahrungen spricht statt wie vorher oft aus der Sicht einer fiktiven Rap-Persona, quillt quasi aus jeder Pore: "This is a crucial subject matter/ Sensitive like cooking batter."

In eine ähnliche musikalische Richtung gehen "Where This Flower Blooms", "See You Again", "Boredom" oder "911 / Mr. Lonely". Neben den ausgezeichneten Produktionen haben alle Tracks gemein, dass sich Rap und Gesang regelmäßig abwechseln. Tyler beweist dabei ein glückliches Händchen und holt sich für die gesungenen Refrains und Strophen namhafte Unterstützung wie seinen langjährigen Wegbegleiter Frank Ocean ins Boot. So stört es kaum, dass er selbst nicht der beste Sänger ist, setzt er seinen Gesang doch relativ gezielt ein.

Fans der ersten Stunde könnten sich an den genannten Tracks stoßen, finden allerdings auch zwei absolute Rap-Banger vor, an denen sie nichts auszusetzen haben dürften. Das als Single ausgekoppelte "Who Dat Boy" zeigt zweifelsohne, dass Tylers Raptechnik auf seinem Zenit angekommen ist. Variabel und kompromisslos flext er über einen basslastigen Beat und muss sich selbst vor seinem Feature-Partner A$AP Rocky nicht verstecken, der ebenfalls einen tauglichen Part abliefert.

"I Ain't Got Time" kommt ohne Gast-Rapper aus, geht aber mindestens genauso nach vorne. Auch das nostalgische und positive "November" oder das entspannte "Pothole" sind astreine Rap-Tracks, die weiter zur Abwechslung beitragen. Dass es an letzterem trotz eines (eigentlich?) talentfreien Jaden Smith in der Hook nichts zu meckern gibt, zeigt, dass Tyler gerade wohl alles gelingt.

Insgesamt wirken sowohl der Sound als auch die Texte reifer als auf dem Vorgänger. Geschmacklose Vergewaltigungswitze im Horrorcore-Stil oder ähnliche Provokationen sucht man vergebens. Vielmehr dominieren persönliche und auch positivere Themen die Texte. Gleichzeitig rücken musikalische Gimmicks wie der Stimmverzerrer, mit dem Tyler in seinen früheren persönlicheren Songs häufig arbeitete, in den Hintergrund. Die Distanz zwischen dem Künstler und seinen Texten hebt Tyler so gewissermaßen auf. Lediglich auf "Glitter" hört man seine Stimme noch verzerrt. Hier passt es aber ausgezeichnet zum Track, in dem ein euphorisierter Tyler, hoch gepitcht, erst begeistert über eine neue Beziehung rappt, die dann, tief gepitcht und deprimiert erzählt, scheitert: "This is one sided, yeah, I can't lie / We ain't gon' work out, we a fat boy."

Vor allem der Blick auf das direkte, teilweise durchwachsene Vorgängeralbum offenbart die enorme Entwicklung, die der Rapper genommen hat. Er hat unnötigen Ballast abgeworfen und sich dafür auf die eigenen Stärken besonnen. Das Album gerät so zweifellos zu seinem zugänglichsten, ohne dass er darüber die schon immer gefeierte Individualität aufgeben muss.

Tyler The Creator liefert Mit "Flower Boy" nicht nur den bisherigen Höhepunkt seines Schaffens, sondern eines der besten US-Rap-Alben des Jahres ab. Dies gelingt ihm vor allem, weil er endlich mit sich selbst im Reinen zu sein scheint: "Floyer boy T, nigga, that's me / Rooted from the bottom, bloomed into a tree."

Trackliste

  1. 1. Foreword (ft. Can & Rex Orange County)
  2. 2. Where This Flower Blooms (ft. Frank Ocean)
  3. 3. Sometimes...
  4. 4. See You Again (ft. Kali Uchis)
  5. 5. Who Dat Boy (ft. A$ap Rocky)
  6. 6. Pothole (ft. Jaden Smith & Roy Ayers)
  7. 7. Garden Shed (ft. Estelle)
  8. 8. Boredom
  9. 9. I Ain't Got Time
  10. 10. 911 / Mr. Lonely (ft. Anna Of The North, Frank Ocean & Steve Lacy)
  11. 11. Droppin' Seeds (ft. Lil Wayne)
  12. 12. November
  13. 13. Glitter
  14. 14. Enjoy Right Now, Today

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