laut.de-Kritik
Natalie Merchant entdeckt den Lippenstift.
Review von Giuliano BenassiDie ersten Bilder vermitteln den Eindruck, als ob die Uhren in Jamestown, New York einige Jahre hinterher hinken. Die Menschen dort scheinen nicht zu Beginn der 80er Jahre zu leben, sondern in einer biederen Vergangenheit. Von wegen wilde Siebziger, Schlaghosen und Miniröcke: Die Leute laufen rum wie auf der schwäbischen Alb in den 50ern.
1990 erstmals erschienen, ist "Time Capsules" eine von Natalie Merchant zusammen gestellte Dokumentation über die ersten acht Jahre von 10.000 Maniacs. Als die Band 1982 entstand, ging die Sängerin noch zur Schule, während andere Mitglieder Kunst an der Uni studierten. Leider dachte wohl niemand daran, die Gründerzeit zu filmen. Nach einer kurzen Sequenz aus Merchants Kindheit springt der Film erst zu einem Kellerauftritt 1982, dann zu einem belanglosen Kurzfilm von Keyboarder Dennis Drew, schließlich zu einem Konzert in Jamestown. Bilder vom örtlichen Leben Anfang der 40er Jahre führen ohne Zusammenhang auf eine Bühne im englischen Newcastle 1985.
Das alles geschieht in zwanzig Minuten, ohne Interviews oder Kommentare. Dann entdeckt Merchant den Lippenstift, ihre Haare werden kürzer, die folkig-rockige Musik erhält den typischen Schliff. Dass künstlerischer Anspruch und kommerzielle Vermarktung nicht unbedingt zusammen passen, beweisen die Videos, die im Laufe der folgenden Jahre entstehen. "Don't Talk" stammt aus einem wirr geschnittenen Liveauftritt, "Like The Weather" ist überbelichtet und von zweifelhafter Symbolik (was sollen etwa die Hennen vor dem Mirò-Bild?), "What's The Matter Here" setzt zu sehr auf verlangsamte Aufnahmen und Schattenspiele.
Zwischendrin lockert das fröhliche "Wildwood Flower" mit Privataufnahmen die Stimmung etwas auf. Merchants bittet um Spenden für New Yorker Straßenkinder ("I Have Dreams"), klebt Bilder aus einer Kirche an dokumentarische Aufnahmen aus dem kolonialen Afrika ("Hateful Hate"), besucht mit dem Fahrrad eine alte Frau ("Trouble Me"), beschäftigt sich mit schwangeren Mädchen ("Eat For Two") und tritt 1989 zum ersten Mal bei MTV Unplugged auf ("Dust Bowl"). Hier ist auch mal wieder die Band zu sehen. Am interessantesten ist das mit Billy Bragg und Michael Stipe in einem windigen Glasgow aufgeführte "Hello In There".
Das war's dann fast schon. Nach den Puppen von "You Happy Puppet" kommen ellenlange Abschlusstitel, bevor das Bonusmaterial startet. Auf dem Höhepunkt des Erfolgs gibt sich Merchant endlich mal sexy: Mit Abendkleid im Video zu "Candy Everybody Wants" und untypisch aufgedonnert beim Unplugged-Auftritt 1993, der den gemeinsamen Lebensweg besiegelt. Ihre Interpretation von Bruce Springsteens "Because The Night" bleibt nach wie vor ein Ohrenschmaus.
Vier Erkenntnisse lassen sich von "Time Capsules" ableiten. Erstens, Natalie Merchant hat einen furchtbaren Klamottengeschmack. Zweitens, sie kann nicht tanzen. Drittens, in Bewegung wirkt sie weniger sexy als auf Fotos. Viertens, sie hat eine tolle Stimme und schreibt schöne Texte. Auf die ersten drei Erkenntnisse kann man getrost verzichten, die letzte lässt sich von einer CD besser ableiten als vom Bildschirm.
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