laut.de-Kritik
Zwischen Beat-Urknall und klassischer Dichtung.
Review von Artur SchulzIm Sommer 2003 fanden in der Hamburger Fischauktionshalle am 25. und 26. August zum 40. Bühnenjubiläum von Achim Reichel zwei Konzerte statt, die jetzt im Jahr seines 60. Geburtstages endlich auch als DVD-Mitschnitt auf den Markt kommen. Eine verkürzte Version der beiden Abende ist bereits im Januar 2004 als CD erschienen.
Der Titel "100 % Leben" hält, was er verspricht.
Lässig gelehnt an die Reling des Schiffs seiner Karrierejahrzehnte ruft Käptn Achim zum Stelldichein – und sie alle springen natürlich sofort an Deck: "Der Boxer", "Der Spieler", "Kuddel Daddel Du" samt "Klabautermann" und "Wildem Wassermann". So wandelt sich der großzügige Konzertsaal mit seinen zahlreichen Besuchern in eine dicht gedrängte Haifischbar, auch wenn man nicht von einem ausschließlich maritim gefärbten Ereignis sprechen kann.
Auf DVD 1 findet sich der akustische Teil des Konzerts. Reichel und seine musikalischen Mitstreiter ziehen versiert und spielfreudig das Publikum in ihren Bann. Goethes düsterer "Erlkönig" zieht als atmosphärisch und lebendig präsentierter Klassiker vorbei; die schaurige "Regenballade" ist von jeher zuverlässiger Gänsehautlieferant. Etwas Besonderes stellt "La-Pa-lo-ma" dar, teilt Achim in einer seiner amüsanten, launigen Einleitungen den Besuchern mit. Noch nie habe er diesen Klassiker auf der Bühne gesungen; doch mit 60 Lebensjahren sei nun wohl endgültig die Zeit dafür gekommen. Dies gelingt überzeugend und mit einem frischen Arrangement versehen. Nicht ausgeschlossen, dass in einer versteckten Ecke der Fischauktionshalle Hans Albers persönlich mit wohlwollendem Lächeln sein Pfeifchen dazu geschmaucht hat.
DVD 2 geht als elektrischer Teil gleich in die Vollen: die legendären Rattles in der Urbesetzung mit Dicky Tarrach (Drums), Hajo Kreutzfeld (E-Gitarre), Herbert Hildebrandt (E-Bass, Gesang) und natürlich Achim Reichel heizen dem dicht gedrängt stehenden Publikum ein. Beim Klassik-Kracher "Mashed Potatoes", der ersten Rattles-Single "Come On And Sing" sowie der damals immer als Schlusszugabe gespielten Chuck Berry-Nummer "Bye Bye Bye" wird wohl so manch nostalgische Träne ihren Weg ins Knopfloch gefunden haben. "Dat Shanty Medley" hält das Schiff auf Kurs, und am Ende findet sich für "Hart Am Ball" eine All-Star-Band ein, die sich aus so unterschiedlichen Künstlern wie Heinz Rudolf Kunze, Inga Rumpf, Joja Wendt, Jan Fedder, Klaus Lage, Lotto King Karl, Piet Klocke, Pe Werner und Stefan Stoppok zusammensetzt. Hier geht der verständliche Teil des Gesangs ein wenig den Bach runter, was aber der guten Stimmung beim Zuhörer keinen Abbruch tut.
Hervorzuheben ist Reichels musikalischer Beistand an diesen zwei dampfig-intensiven Abenden: Könner ihres Fachs untermalen die Songs mit Instrumenten wie Akkordeon, Harmonikum, Schalmei, Drehleier und sogar einer singenden Säge. Der S.O.U.L. 50 Voices-Chor sorgt für das nötige Volumen der Lieder. Die Bläsersektion setzt gute Akzente gerade auch an Stellen, die im Studio ursprünglich ohne Trompete oder Saxophon eingespielt wurden.
Die berührendsten Momente, wie es sich für ein gut getimtes Konzert gehört, spart sich der Meister dann für die wieder rein akustischen Schlusszugabe auf. Abgekämpft auf einem gereichten Hocker sitzend, intoniert Achim Reichel den besinnlichen Song "Leben Leben", der auch so etwas wie das Motto der beiden Abende darstellt, tapfer mit heiseren Stimmbändern ins Mikro. Und gerade die Tatsache, dass Achim am Ende ist mit seiner Stimme, aber kratzig-rauh trotzdem stets den Ton trifft, haucht dem Titel einen besondere Note ein und bildet somit einen mehr als würdigen Abschluss dieser beiden gelungenen Konzerttage.
"Leben/Du kommst immer wieder/in anderer Gestalt/ewig jung und doch uralt" – da mag man auch an den Jubilar denken, der mit viel Elan und unaufgesetzter Jungenhaftigkeit den Zuschauer oft vor die Frage stellt, wo er denn nun die fast 60 Lebensjahre des Achim Reichel finden soll, weil sie optisch sichtbar nicht vorhanden scheinen.
Neben einer immer auf Ballhöhe agierenden Regie überzeugen beide Discs mit scharfem, gut abgestimmtem Bild. Erfreulich, dass man den differenziert abgemischten Ton wahlweise auch in Dolby DTS Surround-Klang genießen kann. An Extras gibt es eine kurzweilige, informative Dokumentation über Achim Reichel mit vielen Kommentaren von Künstlern, Freunden und Weggefährten. In einem interaktiv anwählbaren Interview können Achims präzise, niemals weitschweifig schwafelnde Gedanken zu verschiedene Themen abgerufen werden. Die Studioversion von "Leben Leben" ist einfühlsam mit Bildern seiner Karriere von gestern bis heute unterlegt. Und als Schmankerl gibt es in der Zugabe-Sektion einen alten S/W-Schmalfilmausschnitt aus dem Jahre 1959, der beim Betrachter sicher Schmunzeln auslösen dürfte.
Optimale technische Umsetzung, sinnvolle Extras, die keine langweiligen Füllsel sind, 260 pralle Minuten Leben – da gibt es natürlich eine gute Punktzahl für diese faszinierende Zeitreise zwischen Beat-Urknall und Wiederbelebung klassischer Dichtung samt einer saftigen Dosis Rock'n'Roll. Achim Reichel ist und bleibt einer der absoluten Vollblutmusiker in unserem Land, der diese Bezeichnung auch wirklich verdient.
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