laut.de-Kritik
Tauchgang mit Eisblumen.
Review von Dani FrommNiemand kann CARY vorwerfen, sie hätte ihr Publikum ohne jede Warnung unvorbereitet ins rostige Messer laufen lassen. Dass es auf "Allein Oder Einsam" um Parallelen, vor allem aber um die Unterschiede der beiden singulären Existenzzustände geht, stand angesichts des Titels zu erwarten. Nicht jedoch, welche Tiefen diese Frau auslotet, und schon gar nicht, mit welchen Mitteln sie das tut.
Dieses Album fühlt sich an wie ein Bad in einem Floating-Tank. Als treibe man, abgeschirmt von allen Außenreizen, in dunkler Stille in körperwarmer Salzlösung. Wenn nichts mehr ablenkt, richtet sich der Blick zwangsläufig nach innen. Erinnerungen und Emotionen steigen von dort empor, vollkommen ungehindert, ungefiltert, es gibt es kein Entrinnen, nichts schützt vor der Konfrontation mit den eigenen Dämonen.
CARY jedenfalls stellt sich den ihren. Sie legt zwischenmenschliche Beziehungen auf den Seziertisch, und da sie absolut distanz- und schonungslos zu Werke geht und dabei auf jedes Sicherheitsnetz verzichtet, zwingt sie ihr Publikum geradezu dazu, dasselbe zu tun. Obwohl CARY zutiefst persönlich schreibt und singt, fällt verblüffend leicht, an ihre Themen anzudocken: Es geht um zwischenmenschliche Beziehungen, die uns letztlich eben doch alle umtreiben.
Hand hoch, wer sich beim Feiertagsbesuch bei der Familie noch nie wie ein Alien gefühlt hat. Zusammen mit Crystal F bringt CARY auf den Punkt, wie es sich anfühlt, inmitten einer fröhlich plappernden Runde einsamer als irgendwo sonst auf der Welt, eingekesselt in der eigenen Sprachlosigkeit, "Eingefroren". Der Track beschreibt diese Situation perfekt, vom Wunsch nach Ausbruch aus der klaustrophobischen Beklemmung bis hin zur Erleichterung, die Sache irgendwann hinter sich gebracht zu haben. Unter alldem modert das schlechte Gewissen darüber, überhaupt so zu empfinden, diesbezüglich ist Blut tatsächlich dicker als Wasser: eine überaus präzise Studie eines erschöpfenden emotionalen Kraftakts.
Andere Tracks erzählen von einer sterbenden Liebe, begraben unter Schutt und Asche ("Weisser Staub"), von unaufhaltsam auseinanderdriftenden Lebenswegen ("Lena") oder von dem Entschluss, nicht länger willenloser Spielball der eigenen Traumata zu bleiben, sondern den Kampf aufzunehmen: "SOS, ich renn' nicht mehr weg." Wie viel Krankheits-, Leidens- und Therapiegeschichte im Songdoppel "Nordplatz" und "Bis Es Echt Ist" steckt, lässt sich zum Glück nur erahnen, und schon das gerät schmerzhaft genug.
"Geh' in die Tiefe, mir wachsen Kiemen", so beschreibt CARY ihren Selbstfindungstrip: Bei weitem nicht der einzige Moment, in dem sich dieses Album wie ein Tauchgang anfühlt. Die Produktionen unterstreichen diesen Eindruck noch: Flächige, wattige, gedämpfte Sounds dominieren, unter anderem in "Tauchen". Überhaupt genügen meist wenige, ausgewählte Bestandteile, um für Atmosphäre zu sorgen: ein dunkles Klavier in "Lass Los", ein Hauch Drum'n'Bass in "Bis Es Echt Ist".
Das bemerkenswerteste Element bleibt aber durchgehend CARYs Gesang. Absolut beeindruckend, wie sie bei aller gebotenen Bandbreite allzeit absolut unverwechselbar klingt, völlig unabhängig davon, ob und wenn ja, welcher Effekt gerade auf ihrer Stimme liegt. Dieses Talent zeigt sich direkt in "Weisser Staub": Mal erhebt sich aus dem verzerrten Stöhnen ein Schrei, mal erstickt die Stimme in einem Würgen. In "Tauchen" verleiht CARY ihrer Darbietung einen Hauch Operette, zum Klavier in "Lena" klingt sie beinahe pur, in "Eingefroren" liegen wieder kratzige Effekte auf dem Gesang - passend zum besungenen Eispanzer, eben.
Eis, Wasser, Dunst: CARY deckt wahrlich alle Aggregatszustände ab. Im skizzenhaften "Asche" wabert ihre Spoken-Word-Performance wie Bodennebel um die Knöchel. Wenn sie in "Niemand Da" beteuert, alleine besser dran zu sein als in der falschen Gesellschaft, oder im Titeltrack kurz vor dem Erfrieren noch die existenzielle Frage aufwirft, "Wenn niemand mich findet, bin ich dann noch hier?", wirkt ihre Stimme vollends wie Eisblumen: so zart, als könne sie ein einziger Hauch zum Schmelzen bringen, und dabei so spröde, als würde sie bei der leisesten Berührung in Myriaden glitzernder Splitter zerbersten.
Weder das eine noch das andere wäre wünschenswert, eher schon, dass sich der Hoffnungsschimmer aus "Nordplatz" bewahrheitet: "Ich bleibe noch 'ne Weile." Ja, bitte. Für facettenreichen Pop mit Tiefgang: eine echte Verheißung.
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