laut.de-Kritik
Die Sternstunde des Cool Jazz dank unorthodoxer Takt-Experimente.
Review von Johannes Jimeno14 Jahre lang spielte ich Altsaxophon und genoss das Privileg, bei einem Privatlehrer zu lernen. Seine Unterrichtsstunden empfand ich stets als eine Wohltat, fühlte ich mich doch dem Jazz und Swing eher verbunden als den überwiegend anstehenden Märschen und Polkas des hiesigen Orchestervereins, bei dem Lokalkolorit und Tradition verlangt wurden. Als ich einen fortgeschrittenen Punkt in meinem Können am Instrument erreichte, legte mir mein Lehrer jenes Stück Cool Jazz auf den Notenständer, das jeder Saxophonist in seinem Repertoire zu spielen hat - sogar auswendig: "Take Five", komponiert von Paul Desmond und ursprünglich aufgenommen vom Dave Brubeck Quartet. Ein elegantes Stück Musikhistorie, das selbstredend im Kanon der Jazzstandards seinen Platz hat, also zeitlose und unumstößliche Kompositionen des Genres vergangener Epochen. Das Erstaunliche daran: Niemand glaubte zunächst an den kolossalen Erfolg, es entstand als eine Art Versuch.
Doch der Reihe nach. Jazzpianist Dave Brubeck und sein Quartett, bestehend aus Saxophonist Desmond, Kontrabassist Eugene Wright und Schlagzeuger Joe Morello, bereisen im Auftrag des US-Außenministeriums Eurasien, um ein experimentelles Album aufzunehmen und Einflüsse von fremden Kulturen einzufangen. Dabei beobachtet Dave in der Türkei eine Gruppe Straßenmusikanten, die ein traditionelles türkisches Volkslied im 9/8-Takt in einer 2+2+2+3 Gruppierung spielen. Das kennt Brubeck so nicht, ist er doch das im Westen klassische 3+3+3 gewohnt. Das pflanzt die Idee in die Köpfe des Quartetts, ein Album zu produzieren, was mit unorthodoxen Taktarten spielt und somit den Jazz per se revolutioniert. Passend nennen sie es "Time Out", da der gängige 4/4-Takt des Genres ausgeschaltet wird. 1959 schlägt die letzte Stunde des konventionellen Jazz, Vorhang auf für die Sternstunde des Cool Jazz.
Dieses Subgenre findet seine Geburtsstunde Ende der 1940er bei Akademikern und Musikstudenten in New York, die den Jazz weiterentwickeln durch eine Mixtur aus Kompositionen und Improvisationen, ihm mehr Komplexität verleihen. Cool Jazz fungiert ergo als Jazz von fancy Musiknerds, die ihre Musik als Kunstform ausleben. "Time Out" erweist sich dafür als schillerndster Vertreter, vermengt es unterschiedliche Taktarten sogar innerhalb ihrer Stücke.
Zurück in die Türkei. Auf die Frage, woher diese Straßenmusiker den speziellen 9/8-Takt haben, antwortet einer mit "Dieser Rhythmus ist für uns das, was der Blues für euch ist." Daraus ergibt sich der erste Titel dieses Albums: "Blue Rondo À La Turk". Die vier US-Amerikaner bedienen sich aber nicht bloß an der Taktzahl, sondern übernehmen auch das türkische "Aksak", ein rhythmisches System, bei dem Stücke oder Sequenzen, die in einem schnellen Tempo ausgeführt werden, auf einer ununterbrochenen Wiederholung beruhen. Piano, Saxophon und Hi-Hats spielen gleichsam die schwungvolle Melodie, bis die ersten Soli einsetzen, die im 4/4-Takt eingespielt sind. Durch diese Verschiebung erinnert der Mittelteil einstweilen an einen konzertanten Stampfer oder einen 'Final Fantasy'-Bosskampf aus der 16-Bit Ära. Zudem streuen sie entschleunigende Jazzfetzen ein, die sich einen wilden Schlagabtausch mit den üblichen Rhythmen liefern. Sie remixen sich quasi selbst. Danach übernimmt der entspannte Teil, bis das Anfangsthema den Schlusspunkt setzt. Der absolute Wahnsinn.
Kleine Randnotiz: Das Stück ist weder von noch hat es etwas zu tun mit Mozarts "Rondo Alla Turca" aus seiner Klaviersonate Nr. 11, auch wenn die Titel und die türkische Herleitung es nahe legen.
Nach diesem Auftakt gewähren uns die vier Mannen eine kleine Verschnaufpause mit einer seltsamen Wiesenlerche, der "Strange Meadow Lark". Sie begrüßt uns mit einem zweiminütigen, in rubato gespielten Piano-Solo, das keiner expliziten Taktfolge unterliegt. Mit den einsetzenden Instrumenten erklingt ein 4/4-Swing-Takt, eine butterweiche Saxophon-Improvisation gleitet über eine klassische Schlagzeug-Kontrabass-Untermalung und Brubeck ergötzt sich gen Ende am Free Jazz, bis er das Hauptthema aufgreift.
Desmond lässt verlauten, dass "es nie ein Hit werden sollte. Es sollte ein Schlagzeugsolo von Joe Morello sein" und Brubeck erzählt, "einen 'Hit' zu kreieren aus den Experimenten mit ungeraden Taktarten von 'Time Out', hätte nicht entfernter in unseren Köpfen sein können." Die Rede ist natürlich von "Take Five", das seinen Namen von seinem durchgängigen 5/4-Takt entlehnt. Das Piano bildet das Grundgerüst mit einem ein Ostinato, gemeinhin im Jazz als Vamp bezeichnet, das eine immergleiche Melodie wie ein Sample repetiert. Nach 22 Sekunden haucht Desmond die unsterbliche Melodie in sein Instrument und Morello vollzieht später sein rumpelndes, innovatives Drumsolo. Eine wundervolle Coda vollendet ein Stück Musikgeschichte.
Bis es dazu kommt, ist einiges an Arbeit erforderlich. Die Aufnahme erweist sich für das Quartett als so mühsam, dass der Produzent Teo Macero nach 40 Minuten und mehr als 20 fehlgeschlagenen Versuchen eben jene zunächst abbricht, weil das ein oder andere Mitglied ständig den Takt verliert. Zu Weltruhm bringt es "Take Five" erst im Mai 1961, also zwei Jahre später, als Re-Release fürs Radio und die Jukebox. Es sollte sich über zwei Millionen Mal verkaufen und damit zur erfolgreichsten Jazzsingle ever avancieren.
"Time Out" hat indes noch einiges an Kreativem im Köcher, und was bei der Fünf klappt, sollte auch bei der Drei funktionieren. Das elegante "Three To Get Ready" im 3/4-Takt wechselt sich alle zwei Takte mit einem 4/4-Takt ab und evoziert damit ein pendelndes Momentum. Das Viergespann musiziert dermaßen nonchalant zusammen, da fällt es einem gar nicht auf, dass sie eine imposante Fingerübung kaschieren. Besonders das Saxophon tänzelt traumwandlerisch zwischen den Takten.
Es folgt ein weiterer Jazzstandard, ein musiktheoretisches Schwergewicht und benannt nach Brubecks Tochter Cathy: "Kathy's Waltz". Beginnend als 2/2- beziehungsweise gestrecktem 4/4-Takt, geht es in einen walzerähnlichen 3/4-Takt über. Im letzten Chorus spielt das Quartet im 6/8-Takt, um das Schlussthema im 'richtigen' 3/4-Takt vorzutragen. Auf dem Papier mag das unfassbar verkopft erscheinen, der auditive Hörgenuss profitiert jedoch von der Abwechslung. Desmond betritt das Stück wie ein schüchterner Singvogel und gibt sich verspielten Melodien hin. Der Kaskaden-Part ist heutzutage ein vielverwendeter TikTok-Sound, was die Zeitlosigkeit des Albums noch unterstreicht. Brubeck mausert sich derweil zum heimlichen Star, wenn er extrovertiert und überkandidelt seine Blockakkorde komplett konträr zum Schlagzeug in die Tasten hämmert und sich daraus harmonische Dissonanzen in der Rhythmik auftun. Ein richtungsweisendes Geschehnis.
Verrückter wird es nicht mehr. "Everybody's Jumpin'" pulsiert in einem flexiblen 6/4-Takt in Tandem mit einem 4/4-Takt. Ein hektisches Piano kontrastiert ein legeres Saxophon bei fröhlicher Grundstimmung. Brubeck nimmt im Verlauf das Tempo raus, das Grundthema erscheint marginal langsamer. Zudem gerät Morello noch einmal ins Rampenlicht mit einem eher orientalischen Solo. Wunderbar gesetzte kurze Intermezzi, bei denen alle Instrumente unisono erklingen, vergolden diesen Reigen.
Den Abschluss mimt das charmante "Pick Up Sticks", das in einem durchgehenden 6/4-Takt bleibt, vorgegeben vom sturen Kontrabass Eugene Wrights. Auch hier bleibt das Saxophon zu Beginn recht subtil und schafft Raum für eine äußerst experimentelle, akzentuiert dargebotene Piano-Improvisation. Das Album endet mit simpler Schönheit durch einzelne Notentropfen.
Allein aus der Analyse heraus beschreitet "Time Out" seine eigenen Pfade, manifestiert seinen progressiven Charakter und ist selbst heute noch seiner Zeit voraus. Es terminiert das Cool in Cool Jazz, und zwar nicht nur, weil es cool klingt, sondern auch, weil es die zugrundeliegende Systematik auf die versierteste Art und Weise salonfähig macht. Es ist nämlich das erste Jazz-Album, das sich über eine Million Mal verkauft und Platz 2 der Billboard Pop Albums 1961 erreicht. Cool Jazz wird zum Popstar.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
4 Kommentare
großartiges Album!
Kann man blind jedem schenken. Auch Jazzhassern.
Jopp. Eins der Alben, von denen die Musikwelt nachhaltig profitiert hat!
tolle, denn fundierte und detaillierte Rezension. Ein tolles Album, das wunderbar Orient und Okzident verschmelzen lässt. "Take Five" fungiert dabei natürlich als "Blockbuster". Auch zu empfehlen von Brubeck: "Time Changes" aus dem Jahr 1963; auch auf Columbia erschienen.