laut.de-Biographie
Dhafer Youssef
Zuhause ist da, wo Handy und Laptop sind. Als Rising Star in der Weltmusik- und Jazz-Szene reist Dhafer Youssef viel. Sein fester Wohnsitz bewegt sich Gerüchten zufolge irgendwo zwischen New York, Graz, Barcelona, Berlin, Dakar und Wien, bevor er 2002 seinen Lebensmittelpunkt vorerst nach Paris verlagert. Frisch verheiratet lebt es sich in der Stadt der Liebe offenbar recht gut.
Geboren ist der Tunesier 1967 in Téboulba, wo er auch aufwächst. Die Lieder der Koranschule und die mit ihnen verbundenen islamischen Gesangsstile bilden die Grundlage seiner musikalischen Laufbahn. Eine Instrumentalausbildung an der arabischen Laute, der Oud, können und wollen ihm seine Eltern nicht finanzieren. Mit 15 kauft er sich deshalb mit auf Hochzeiten ersungenem Geld selbst sein erstes Instrument.
Mit dem Schulabschluss in der Tasche migriert er vier Jahre später nach Graz, um den amerikanischen Traum zu realisieren: Er arbeitet sich vom Tellerwäscher immerhin bis zum Pizzaverkäufer hoch, und verlegt seinen Wohnsitz dann nach Wien.
Dort spielt er sich über etliche Kindertheaterengagements in die multikulturelle Künstlerszene und studiert klassische Musik. Parallel dazu beschäftigt er sich mit indischen Gesängen und Improvistaionen und besucht in New York regelmäßig Jazz-Clubs.
Erste wichtige Sessions mit hochkarätigen Kollegen wie Renaud Garcia-Fons oder Nguyên Lê formen sein musikalisches Weltbild. Zehn Jahre Aufenthalt in Österreich ermöglichen ihm die nötigen Kontakte zur ersten Liga der europäischen Musikszene. Inzwischen zählen Bill Laswell, Nils Petter Molvaer, Bugge Wesseltoft, Markus Stockhausen, Paolo Fresu, Jack DeJohnette, Wolfgang Muthspiel, Nguyên Lê, und Mino Cinelu zu seinen Kollaborateuren - unter vielen anderen.
Doch Dhafer Youssef mag kein Name-Dropping: "Ich brauche das nicht, mit großen Namen zu spielen. Jeder Musiker hat seine eigene kleine Geschichte zu erzählen. Nicht alle können das in ihrer Musik ausdrücken. Aber wenn du es kannst, brauchst du dich mit niemandem zu schmücken."
Einigkeit herrscht in entsprechenden Kreisen über Dhafers außergewöhnliche musikalische Fähigkeiten. Sein poetisches Oudspiel, sein feines Gespür für komplexe Kompositionen und die faszinierende Linienführung seiner klaren Stimme überzeugen Kritiker und Hörer gleichermaßen.
Nachzuhören ist sein einzigartiger Jazz/World-Musikmix auf wunderbaren Tondokumenten. War "Malak", das Debüt, nur einer kleinen Schar von Liebhabern bekannt, stieß "Electric Sufi" (unter anderem mit Wolfgang Muthspiel) in der Szene auf allgemeine Hochachtung.
Mit "Digital Prophecy" dringt Dhafer Youssef tief ins Zentrum der europäischen Musikerneurungsfabrik in Norwegen vor. Unterstützt von VIPs der dortigen Szene (Bugge Wesseltoft, Nils Petter Molvaer und andere) wird er einem breiten Publikum bekannt.
Auf die Mithilfe der norwegischen NuJazz-Szene verlässt er sich auch für sein viertes Album "Divine Shadows". Gemeinsam mit Gitarrist Eivind Aarset, Trompeter Arve Henriksen, E-Bassist Auden Erlien und Schlagzeuger Rune Arnesen spielt er zauberhaftes Werk von "berückenden Momenten und betörender Magie" (Jazz-Podium) ein.
Nach "Divine Shadows" (2006) veröffentlicht Youssef 2007, gemeinsam mit Wolfgang Muthspiel, "Glow". Unterstützt von Tom Harrell (Trompete, Flügelhorn), Alegre Correa (Schlagzeug/Perkussion), Matthias Pichler (Bass) und Rebekka Bakken (auf dem Track "Cosmology") gelingt den beiden Tonbastlern ein reifes Album, das beider Fähigkeiten harmonisch amalgamisiert.
Mit "Abu Nawas Rhapsody" (2010) verneigt sich der Tunesier vor dem arabischen Poeten Abu Nuwas (757-815), der mit seinen Liebes-, Jagd- und Weingedichten Bekanntheit erlangte. Auf der Platte verfolgt er eine deutlich jazzigere Richtung als auf den Vorgängern. Dafür lädt er mehrere Shootingstars der Szene wie Tigran Hamasyan (Piano), Chris Jennings (Bass) und Mark Giuliana (Drums) ins Studio ein. Letzten Endes dreht sich das Werk um "geistige Sinneslust", sagt Youssef in einem Gespräch. Dementsprechehnd pendelt es souverän zwischen den Polen Melancholie und Leidenschaft.
Sein Talent macht sich danach die internationale Filmbranche zunutze. Auf Soundtracks wie "Black Gold" oder "The Amazing Spider-Man" hört man seine Stimme, die wie nicht von dieser Welt klingt.
Für "Birds Requiem" (2013) bildet der Oud-Virtuose ein Trio um Pianist Kristjan Randalu und Trompeter Nils Petter Molvaer. Dem schließt sich ein größeres Ensemble um Klarinettist Husnu Senlendirici, Bassist Phil Donkin, Drummer Chander Sardjoe, E-Gitarrist Eivind Aarset und Aytac Dogan an, der an einer Zither-ähnlichen Kanun seine Virtuosität unter Beweis stellt. So verweben sich auf dem Album orientalische Elemente und zeitgenössischer Jazz zu einer berauschenden Melange.
2016 kennt die Produktivität des rastlosen Weltenbummlers keine Grenzen mehr. Fast zeitgleich arbeitet er rund um den Globus an drei völlig unterschiedlichen Werken. Mit "Diwan Of Beauty And Odd" setzt Youssef einen langjährigen Traum in die Realität um und spielt seine erste Platte in New York ein.
Für die Platte, die noch im selben Jahr erscheint, kontaktiert er ein weiteres Mal Mark Giuliana. Pianist Aaron Parks und Bassist Ben Williams stoßen ergänzend hinzu. Eine Nummer auf dem Album widmet er gar der Progressive-Metal-Band Meshuggah. Auch sonst erweist es sich als überaus treibend und energetisch.
Mehrere Jahre zuvor erprobt er in Frankreich auf der Bühne einige Songs, die auf indischen Ragas basieren. Dafür gewinnt er die Tabla-Legende Zakir Hussain. Die zwei Musiker verschlägt es später nach Mumbai. Dort entstehen gemeinsam mit Husnu Senlendirici Teile von "Sounds Of Mirrors". In Istanbul gesellt sich Eivind Aarset zum Trio und steuert Gitarrenspuren bei. Der finale Mix erfolgt in Göteborg.
Mit der Scheibe, die jedoch erst Ende 2018 in die Läden kommt, besinnt sich Youssef vermehrt auf seine spirituellen Wurzeln, ohne das Weltliche zu vernachlässigen. Ohnehin hält er sich wegen seiner aktuellen Ehefrau wieder viel in Tunesien auf.
Trotzdem findet er darüber hinaus noch Zeit, ein deutlich bombastischeres Werk mit Jazz-Größen wie Herbie Hancock, Dave Holland und Marcus Miller aufzunehmen, das er 2019 veröffentlicht.
Musikalisch lässt sich Dhafer Youssef nicht in eine bestimmte Schublade pressen. Für jede Aufnahme kreiert er Ensembles, die für sich stehen. Nur hat er mit seiner Musik stets ein klares Ziel vor Augen: "Ich will Schönheit erzeugen."
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