laut.de-Kritik
Einige graue Wolken, aber auch ein fetter Regenbogen.
Review von Franz Mauerer38 Euro für eine 8-CD-Boxset – zugegeben ist "Live 1972-1992" zumindest in CD-Form keine Abzocke. Bei Vinyl ist man mit gut 210 Euro dabei, aber das sind dann auch immerhin zwölf Scheiben mit einer netten Box und, wie von Dire Straits gewohnt, bockhässlichen Covern. Das Veröffentlichungsdatum bezieht sich übrigens auf die digitale Version, für die Hände gibt es das erst seit dem 03.11. Nachdem wir schnöde Finanzfragen somit geklärt haben, zum Wesentlichen: Ist die Geschichte der, freimütig übersetzt, "Belastenden Zeiten" nicht eigentlich längst auserzählt? Die Band hat sich immerhin vor sage und schreibe 28 Jahren getrennt.
"Live 1972-1992" ist allerdings auch kein neu veröffentlichter Mitschnitt, sondern größtenteils ein Remaster bekannten Materials. Versammelt sind die Live-Alben "Alchemy" und "On The Night" in hierfür remasterten Versionen und extensiven, teils noch unveröffentlichten Fassungen, die Live-EP "Encores", die bereits 2021 in remasterter Version erschien, sowie die Sammlung "Live At The BBC" von 1995. Unveröffentlicht war bislang nur die Show "Live At The Rainbow" von 1979.
Remaster hin oder her wird mit "Once Upon A Time In The West" schon klar, dass man sich mit dem kommerziell überaus erfolgreichen "Alchemy" ein Londoner Konzert von 1984 anhört, das viele Jahrzehnte zurückliegt und auch nach damaligen Maßstäben nicht optimal aufgenommen wurde. Das stört bei überragenden Songs oder bei solchen mit einer Dynamik, bei der es nicht auf die Feinheiten ankommt, und vor allem bei überragenden, dynamischen Songs wie "Romeo And Juliet" und "Sultans Of Swing" ebenso wie auf der eher vordergründigen Schmonzette "Love Over Gold" natürlich weniger als bei komplexeren und zurückhaltenderen Titeln wie "Private Investigator" oder dem eh schon nicht besonders dollen "Twisting By The Pool". Dire Straits und Knopfler dürfen und sollen ordentlich die Gitarre rausholen, aber diese geht bei Stücken wie "Tunnel Of Love" schlicht ein Stück weit unter. "Alchemy" überzeugt auch in der erweiterten Version durchaus mit seiner rohen Kraft, ein Live-Feeling stellt sich aber selten ein, vom Jubelgeschrei bei Soli abgesehen.
"On The Night" hat einen anderen Charakter, da es nicht aus einem Konzert besteht, sondern aus Vorführungen in Nimes, Rotterdam und Paris zusammen gestellt ist. "On The Night" hat deshalb seine Vorzüge in der Soundqualität und ist keinesfalls so schlecht, wie es 1993 bei Veröffentlichung wahrgenommen wurde. Die damaligen Zerrisse der Aufnahmen aus 1992 lagen natürlich auch an der Frustration über den kreativen Stillstand der Band. "On The Night" bleibt der feuchte Traum aller Gitarrenfetischisten, denn weder "Calling Elvis" noch "Telegraph Road" oder "I Think I Love You Too Much" könnte man in diesen Versionen vorwerfen, dass man die Gitarre nicht ausufernd hören würde. Objektiv ist das viel, viel zu lang, allerdings schafft "On The Night" dadurch zumindest für eine bestimmte Klientel Mehrwert, und einige wenige Songs wie "You And Your Friend", die eh grenzenlos ausgelegt sind, finden so ihre wahre Bestimmung.
"Encores" fühlt sich nicht nur wie ein Teil von "On The Night" an, die dortigen Konzertmitschnitte stammen ebenfalls 1992 aus Nimes. Der BBC-Mitschnitt von 1995 ist das spannendste am ganzen Werk, denn das größtenteils 1978 in London aufgenommene Album vereint Live-Feeling und vernünftige Aufnahmequalität. Zumindest "Down To The Waterline" und "What's The Matter Baby?" sind oben im Regal einzuordnen, bei einigen Songs wie "Lions" wird deutlich, dass Knopflers Stimme nicht den besten Tag erwischte.
Insgesamt kranken die bisher besprochenen Parts von "Live 1972-1992" daran, dass sie im Vergleich zur erst letzten Jahr erschienenen Studio-Kompilation "The Studio Albums 1978-1991" nur insofern Mehrwert schaffen, als sie rumpligere oder gitarrenfetischisierendere Versionen anbieten – aber keine gleichwertigen, alternativen oder gar besseren.
Das gilt nicht für den letzten Teil des Albums – die Mitschnitte vom 20. und 21. Dezember 1979 in der Rainbow Theatre Show in London. Die Qualität ist um Lichtjahre besser als in den anderen Teilen, Knopflers Stimme und Gitarre sind ebenso wie der Bass viel weiter nach vorne gemischt. Der Meister lässt sich hin und wieder zu Interaktion mit dem Publikum herab, das aber nicht ständig zu hören ist. Insgesamt eine sehr flüssige, smoothe Aufnahme, mit der allerbesten Version von "Where Do You Think You're Going?". Endlich hört man die Sehnsucht aus Marks Stratocaster raus.
Ein tolles Ding, der Rest kann in die Tonne. Zu diesem Rest gehören auch die letzten vier Songs, die die Gäste Phil Lynott und Ronnie Golden versammeln. Deren breitbeiniger Blues steht den Dire Straits nicht besonders gut, auch wenn man den Spaß der Beteiligten wohlwollend zur Kenntnis nimmt.
2 Kommentare
Meines Erachtens lohnt der Boxkauf alleine schon für den Rainbow Gig aus 1979. Diese noch junge und wilde Spielfreude, der rohere Sound ohne den aufgeblähten 80er Bombast mit Saxofon und Keyboard sowie die exzellente Klangqualität des Mitschnitts machen richtig Spaß.
Wenig Freude bereitet allerdings meine Vinylausgabe, auf der 5 Songs durch Pressdefekte verhunzt sind. Bei diesem Preis nicht akzeptabel, aber vom Presswerk Optimal ist man als Kunde in der letzten Zeit ja Kummer gewohnt. Ohne diese Defekte wäre die Qualität der Box ein Traum.
Ich hoffe ja, dass irgendwann noch das Rockpalast-Konzert von 79 aufgefrischt und veröffentlicht wird. Für mich das beste Konzert der Ur-Dire Straits. Ansonsten hatte ich kürzlich bei Spotify in diese Sammlung reingeschaut und war dann doch etwas enttäuscht darüber, dass vieles davon so bereits bekannt (und tausendfach gehört) ist.
Grundsätzlich freut es mich aber, dass etwas Bewegung in den Backkatalog kommt. Andere Künstler und Bands aus dieser Zeit glänzen in den letzten Jahren mit umfassenden Live-Veröffentlichungen aus allen Schaffensphasen. Für eine so legendäre Band wie die Dire Straits sollte das doch auch möglich sein...