laut.de-Kritik

Möge der Amoklauf dieses Albums nie enden.

Review von

Vor ein paar Jahren noch waren Google-News-Schlagzeilen nach der Art "DIESER Artist ist jetzt auf Spotify" oder "Ihr werdet nicht glauben, wessen Musik ihr JETZT streamen könnt" gang und gäbe. Nach Taylor Swift, Prince und den Beatles hatte sich die Sache dann aber etwas ausgelutscht – mit wenigen Ausnahmen. Das erfolgreichste guyanische Exportprodukt noch vor Bauxit, Eddy Grant, ist bis heute nur mit seltsamen Compilations auf den einschlägigen Portalen vertreten. Das ist ein bewusster Schritt Grants, der die Zahlpraxis der Plattformen kritisiert, für die Konsumenten gleichwohl ärgerlich, gibt es doch nicht wenige Reggae- (und 80s-) Connaisseure, die Grant noch vor Marley, Cliff und McGregor für den interessantesten, vielseitigsten und qualitativ beständigsten Vertreter des Genres halten.

Und es ist vor allem ein Album, das den Ruf Grants als Tausendsassa festigte: "Killer On The Rampage". Als die Platte 1982 erscheint, hat Grant schon eine beachtliche Karriere hinter sich. In den 60ern war er mit The Equals enorm erfolgreich, bevor er sich aufs Produzieren verlegte, mit wechselndem Erfolg. Ab Mitte der 70er wagte er sich in Solo-Gefilde, und auch hier legte er sich erst auf die Nase: Von den ersten beiden Alben wollte niemand etwas wissen. Interessant, aber auch penetrant und selbst für die Reggae-Hörerschaft zu politisch. Das ändert sich 1978 nur ein wenig mit "Walking On Sunshine" – unter dem Titel und dem exzellenten Titeltrack versteckt Grant den Überhit "Living On The Frontline", aber erst "Can't Get Enough" mit dem bis heute hypnotisierenden "Do You Feel My Love" bringt ihn sogar in der BRD für zwölf Wochen in die Charts.

Darin war schon zu hören, in welche Richtung der immer noch erst 34-jährige Grant das eigene Oeuvre mit Vehemenz treiben wird: Eine dicht an sich abzeichnende 80-Trends angelehnte Pop-Version von Reggae, tanzbar und doch voll Protest. Mit Texten, die sich zumeist sinnvoll als empathische Romanzen wie auch als politische Anklagen lesen lassen. Und mit einer geradezu unverschämten Bandbreite an Umsetzungsstilen und Instrumenten, die der Autodidakt Grant hier durchgehend selbst schwingt, sogar die Produktion übernahm er, lediglich Engineering und Mastering ließ er zuarbeiten.

Es fällt zuweilen leicht, Grant nicht als echten Albumkünstler ernst zu nehmen. Neben zwei, drei Übersongs finden sich oft Rohrkrepierer und Füllmaterial. Sogar auf seinem bis heute erfolgreichsten Album "Killer On The Rampage" könnte die enorme Stilvielfalt neben dem Titeltrack, der bis heute jedermann bekannten Single "Electric Avenue" und DEM Verweigerungs- und Zölibat-Song überhaupt "I Don't Wanna Dance" zu eben diesem Schluss verleiten. Das wäre aber eine krasse Fehleinschätzung: "Killer On The Rampage" überzeugt durchgehend und ist ein Meisterwerk des Ice Records-Chefs.

Statt über das Cover und die zu kurzen Hosen zu sprechen, widmen wir uns dem bereits genannten Offensichtlichen: "War Party" und "I Don't Wanna Dance" erreichten höchste Gefilde der britischen Charts, was zumindest beim letzteren Stück ironisch ist, singt Grant nach allgemeiner Ansicht doch hier nicht gerade schmeichelhaft von seiner Wahlheimat UK. Über das Politische hinaus hat der Song einen sehr direkten Charme als Trennungs- und allgemein Verweigerungssong. Musikalisch handelt es sich mustergültig um einen der Blends aus Reggae, Pop, Funk und Rock, die Grant so einzigartig machen. Beginnt "I Don't Wanna Dance" mit einem scheinbar fröhlichen Schunkelrhythmus, entfaltet er erst in der Strophe seine Sehnsucht und Verbitterung. Die E-Gitarre setzt zunächst einen schönen Kontrapunkt, bevor Grant den Song hypnotisch weiterlaufen lässt und das Mantra sich immer tiefer in die Gehirngänge und Tanzhüften brennt.

Thematisch noch deutlicher anklagend fällt "War Party" aus. Ein Mid-Tempo-Reggae, für Grant untypisch klassisch ausfallend, spricht er ein lyrisches Du an, das sich skrupellos Krieg und Zwietracht für die eigenen Interessen bemüht – und dafür Grant einspannen will, der sich, hier kommt das alte Thema des Guyaners, verweigert ("You killed the children just like Pharoah"). Erst nach einer guten Minute spürt man das untrügliche Melodiegefühl Grants, wenn die Synths einsetzen, und spätestens mit der E-Gitarre fühlt man sich zuhause. Grant nutzt sein Arsenal hier aber nie anders, als um den ursprünglichen Feel des Songs zu unterstützen. Vielleicht nicht in seinen Top 10, aber nichtsdestotrotz ausgezeichnet und vielleicht sein bestes Genreprodukt.

In die Top 10 gehören andere Songs, und der US-Charts-Nr-1-Hit Funk "Electric Avenue" gehört zweifelsfrei dazu. Durch die veralteten Synths wird das Stück fast noch unfassbarer, der Bastard aus Rock und Funk beschreibt den daily struggle aus Sicht der zumeist schwarzen Jugendlichen, die 1981 Unruhen im Londoner Stadtteil Brixton lostraten. In seiner schlichten Eindringlichkeit ist "Workin' so hard like a soldier / Can't afford a thing on TV" nach wie vor ein Schlag in die sozialpolitische Magengrube. Dass sich die Crew um Jackass ausgerechnet diesen Song für einen Gang durch eine Art Folterzirkel mit Elektroschockern aussuchten, liegt aus deren Sicht natürlich an der Verwandtschaft ihrer Masofolterstraße zur "Electric Avenue", hatte durch die Nutzung von Multimillionären, die ihren Lebensstandard nur durch Selbstverstümmelung halten können, mehr doppelte Böden, als ich im Kino zu zählen vermochte. Losgelöst von allen sonstigen Erwägungen ist der Track unglaublich tanzbar und pusht bis heute durch seine kantige Geradlinigkeit, die fast schon verschreckt.

Nun zu den Nicht-Singles, die auf dieser Scheibe gerne übersehen werden. Das fängt an mit dem zweiten Reggae-Lied: "It's All In You". Schlicht wunderschön, wie Grant hier die Melodien und seine Stimme streckt und dem Reggae zeigt, wo der Pop hängt. Herzzerreißend, wie Eddy seiner Verflossenen nachtrauert ("And baby try as I may/ My mind won't accept what is true"). Vieles, was Grant auszeichnet, findet sich hier wieder. Er versteht Reggae nur als wenig mit dem Dub verwandt, schafft es, auf einem vordergründigen Reggae-Rahmen aus jedem Korsett auszubrechen und so eine spektakulär effektive Druckvariation in ein eigentlich repetitives Genre einzuführen. Er bringt seine Gitarrenmeisterschaft organisch ein und zeigt zum Schluss seine ganz starke Seite als quer durch den Song krakeelender Wüterich - am Ende steht irgendwie großartiger Pop. Ähnliches gilt für den Titeltrack, in dem Grant ungewöhnlich humoristisch eine Mördergefahr übertreibt, vor der sein Mädchen beschützen werde ("I'm gonna shoot him in the face") – es müsse halt nur notgedrungen an Eddys Seite bleiben. Eine großartige Gitarre ist der Boden des Ganzen, am ehesten wohl als karibischer Poprock zu beschreiben.

Wo wir bei der Karibik sind: Für "Another Revolutionary" fällt mir auch nichts Gescheiteres ein als karibische Reggae-Elegie. So tief verwurzelt in seiner Heimat und gleichzeitig mit einem so offensichtlich umfassenden Wissen um die musikalische Szene im damaligen Musiknabel London ergibt sich ein tieftrauriger Abgesang an die Fähigkeit des Menschen, Veränderungen hervorzurufen. Dass Grant am Synthesizer trotz seiner dort nur rudimentärer Fähigkeiten fast noch besser aufgehoben ist als an der Gitarre, die er meisterlich beherrscht, zeigt die Bridge nach zwei Minuten Spielzeit, in der Grant mit seinem Stimmeinsatz um den Beat herum so manches von Kanye vorwegnimmt. "Drop Baby Drop" ist ebenfalls stark Synth-basiert und mit seiner entspannten Art ein guter Closer, der zwar nur von seiner einen guten Melodie lebt, dank kurzer Spielzeit und einem blendend aufgelegten Grant aber nicht über Gebühr bleibt.

An "Funky Rock 'N' Roll" scheiden sich die Geister der Grant-Aficionados. Zu doof wirkt der Titel, zu gekünstelt das Arrangement. Wer offen ist für einen zittrigen, dank seiner Unvorhersehbarkeit untanzbaren und komplexen Alt-Dance-Track, wird seine reine Freude haben, zumal Grant als Sänger und Gitarrist hier mal dermaßen aufdreht, das die Boxen teils überraschend keuchen. Es passt zum Track, dass er als Closer der LP-A-Seite einfach ausläuft, ich hätte mir auch kein Ende vorstellen können. Das wirkt so avantgardistisch und gleichzeitig konsumentenfreundlich, man mag dem Stück weder sein Alter glauben, noch, wie wenig es gesamplet wurde.

Zwei Lieder fehlen noch, eines davon ist "Too Young Too Fall". Möchte man eine Schwachstelle auf "Killer On The Rampage" suchen, wäre sie wohl hier. Der Track ist gefällig, mehr aber auch nicht. Er stört den Gesamteindruck nicht, kann aber nicht mithalten, musikalisch geriert er sich durch seine Soulanteile sogar als Fremdkörper, der zu wenig inspiriert ausfällt, und der Sänger gibt den Manilow nicht komplett überzeugend.

Besser macht es "Latin Love Affair", das sich eher brasilianisch als hispanisch-lateinamerikanisch anhört, was angesichts der Biographie Grants auch Sinn gibt (Guyana ist Teil der anglophonen Karibik). Beschwingt und ungezwungen fröhlich fällt der Track aus, auch wenn Grant auf den doppelten Boden nicht verzichten mag ("Never gonna let you go" – ist klar, deswegen auch "Affair"). Eine solche Verheiratung von Choro, Tropicália und Reggae unter einem Pophut ist zumindest mir noch nicht untergekommen. Man muss kaum anmerken, dass die Verschmelzung natürlich organisch gelingt, wie Grant 1982 halt einfach alles gelang. Möge der Amoklauf dieses Albums nie enden und bald seinen Weg auf die Streaming-Plattformen finden.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Electric Avenue
  2. 2. I Don’t Wanna Dance
  3. 3. It’s All In You
  4. 4. War Party
  5. 5. Funky Rock 'N' Roll
  6. 6. Too Young To Fall
  7. 7. Latin Love Affair
  8. 8. Another Revolutionary
  9. 9. Drop Baby Drop
  10. 10. Killer On The Rampage

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