laut.de-Kritik

Kein Stillstand, aber auch kein Freudentanz.

Review von

"Abart" heißt das 17. Album der Thüringer. Auf dem holt das Duo Roth und Fimmel (der jetzt wohl Knauer heißt) mit Markus Stock, Bandchef von Empyrium, Prominenz mit an Bord. Stocks Bass spielt, so viel sei vorweggenommen, in der Abmischung eine deutlich untergeordnete Rolle. Cover ekelig, dabei aber scheißbillig - Check, der Eisregen kann kommen.

"Am Abgrund" beginnt ungewohnt langweilig. Eine schlechte Entscheidung, dass Klavier und Geigen die Melodie nachzeichnen, das gibt dem Lied einen formelhaften Rahmen. Yantits Schlagzeug kann auf diesem langsamen Level technische Schwächen nicht kaschieren und Roth reißt es nicht raus, da auch ihn die langsame Gangart überfordert. Er versucht das mit seinem Charisma und Flüstern zu übertünchen, alles bleibt aber eher schief als eben. Das Amoklied "Ich Und Mein Bolzenschussgerät" findet den bandtypischen Groove wieder, schwer und beschwingt gleichzeitig geht es vorwärts. Auffällig: Zum Schluss weiß der Track nicht wohin, das passiert den Herren auch auf "Abart" gerne mal, vermeidet aber das große Donnerwetter für eine erneut eher langsame Passage, die bluesig beginnt, dann aber in einen zu simplen Metal verfällt. "Im Blutroten Raum" nimmt den blutleeren Opener wieder auf und positioniert sich ebenfalls in einem Goth, dem es an Schwung mangelt, der zu theatralisch auftritt, ohne diesem szenischen Element Herr zu werden.

"Lebendköder" gibt zwar schnell auf die Schnauze, zieht den Schlag aber nie ganz durch. Wie die vorherigen stellt der Song deutlich weniger den Ekel in den Vordergrund, sondern Roth wirkt auffallend bemüht, in jedem Song eine Geschichte zu erzählen und das für den Hörer nachvollziehbar. Nun reißt diese Geschichte freilich keine Lücke in den Bildungskanon der Unkundigen, ergibt auch gerne mal nicht so viel Sinn, als Weiterentwicklung empfinde ich es trotzdem. Zurück zum Schlag: Natürlich ist das alles wahnsinnig schnell, prägnant in den Vordergrund gestellt wird aber das sporadische Piano. Auch hier scheint die Band bewusst um Fortschritt bemüht, das geht nur nicht so recht auf. Diese Bemühungen fallen musikalisch schwächer aus als die zwar ebenfalls um mehr Breite bemühten Vorgänger, die jedoch weniger auf eben jene neue Elemente setzten, die auf "Abart" über Gimmick-Status nicht hinauskommen. Dabei kommt dann Müll wie "Dem Menschsein So Fern" raus, der samt seiner Kindermelodie auf dem Mittelaltermarkt eingesperrt gehört, wo ihn verlumpte Mechatronikerlehrlinge in ihrem duschlosen Wochenende mit Tomaten bewerfen.

Natürlich ist diese Entwicklung an sich zu begrüßen und in diesem Fall kein sell-out- sollte sich halt trotzdem gut anhören. Der Ansatz der Vorgänger, mit Stilen zu experimentieren, fühlt sich deutlich sinnvoller auf die Stärken besinnend an als die Glocken von "Schöner Sterben"; einem grundsätzlich sehr gelungenen Track, auf dem die Songwriter aber immer zu sehr auf das Gimmick hinschreiben, weshalb dessen Einsatz nicht bereichert, sondern schwächt. Man merkt, wo Roth und Knauer hinwollten; "Abart" kommt dort aber nicht an.

Erst "Hinterland", eine inhaltlich ultradoofe Inqusitionshymne, findet in den Strophen zu einer solchen Besinnung zurück und entwickelt sofort mehr Zug als alles zuvor. Ein Band-Highlight, mit Abstrichen beim Refrain. Mit "Rasierfleisch" kommt dann doch noch ein Lied, bei dem man prima Fast Food kotzen kann, und das den Schwung von "Hinterland" fortsetzt. Dynamik, Härte, Groove, Fokussierung: Hier kommt alles zusammen und Roth hat seinen bis dahin stärksten Auftritt. In der ersten Hälfte des Albums gibt er sich redlich Mühe, seine Sprechpassagen gerieren ohne doppelten Boden mit ihrer leicht peinlichen Fallhöhe aber nun mal an den Drachenlord; es tut ihm spürbar gut, wenn er mehr Shouting oder gar technisch feines Growling wie auf dem nicht mal eine Minute zählenden, abreißenden Titeltrack präsentieren darf. "Schmutzliebe" wehrt er im Alleingang fast erfolgreich gegen die Profanisierungsversuche der billigen Keyboard-Geige ab, erst durch die zu kitschigen Backing-Vocals kippt der Song. "Totkörperkunst" schließt das Album ab und alle missglückten Gimmicks haben nochmal einen Auftritt. Der Song krankt nicht an seinen zehn Minuten, sondern an der Hilflosigkeit, die Kernband mit den Tasten und Streichern zu vermählen.

Eine bereits bekannte Unart der Band sind beschissene zweite Discs. Auf "Abart" erwartet der langjährige Fan freudig die "Die Rückkehr Der Elektro Hexe". In der Strophe Klingelton, im Refrain Blödsinn, was die "Elektro Baba Yaga" aber locker unterbietet. Keiner der daran Beteiligten kann jemals elektronische Musik gehört haben. "1000 Tote Nutten 2024" unterzieht den Bandklassiker eine Frischzellenkur. Erneut drängt sich der Eindruck auf, der Song könnte vor allem wegen seines Titels beliebt sein, so besonders ist der nicht.

Trackliste

  1. 1. Am Abgrund
  2. 2. Ich Und Mein Bolzenschussgerät
  3. 3. Im Blutroten Raum
  4. 4. Lebendköder
  5. 5. Dem Menschsein So Fern
  6. 6. Schöner Sterben
  7. 7. Hinterland
  8. 8. Rasierfleisch
  9. 9. Abart
  10. 10. Schmutzliebe
  11. 11. Totkörperkunst
  12. 12. Die Rückkehr Der Elektro Hexe
  13. 13. Electro Baba Yaga
  14. 14. 1000 Tote Nutten 2024

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4 Kommentare mit 14 Antworten

  • Vor 3 Monaten

    "Dabei kommt dann Müll wie "Dem Menschsein So Fern" raus, der samt seiner Kindermelodie auf dem Mittelaltermarkt eingesperrt gehört, wo ihn verlumpte Mechatronikerlehrlinge in ihrem duschlosen Wochenende mit Tomaten bewerfen."

    Mir liegt dieses allgemeine Zielgruppenbashing ja prinzipiell eher fern, aber hier musste ich schon schmunzeln ob der Bilder, die in meinem Kopf entstanden :D

  • Vor 3 Monaten

    wer hört ernsthaft Eisregen

  • Vor 3 Monaten

    "...positioniert sich ebenfalls in einem Goth, dem es an Schwung mangelt,..."
    Kann mir mal jemand erläutern, was dieses "Goth" musikalisch ausmacht? Klar, da gibt es eine bestimmte Art von Lyrik und eine Szene, die sich über Verkleidungen und ein stimmungsvolles "Drumherum" definiert.
    Ich gönne ja den Leuten ihren Spaß und will das gar nicht schlecht reden. Aber wenn ich mir die Musik, die diesem "Genre" zugeordnet höre, ist das für mich im Großen und Ganzen normaler Rock/Pop/Metal/Whatever, ohne dass da bestimmte Alleinstellungsmerkmale zu erkennen sind. Oder krieg ich da irgendwas nicht mit?

    • Vor 3 Monaten

      Also der ( im meinen Augen) Gothrock sind so Bands wie Cure, Sisters of Mercy , Bauhaus, Siouxie usw....die alle aus den Punkrock kamen und den eben weiterentwickelt haben zu das Düsteren/experimentellen...dewegen auch die anderen Begriffe wie Postpunk, Düsterpunk, Deathrock (in Usa)... mit Blutengel und Konsorten hat das natürlich nicht zu tun...
      Ps : die meisten Bands haben sich auch nicht als Goth bezeichnet^^

    • Vor 3 Monaten

      Die bewegen sich insgesamt in einem ganz engen Musik-Korsett, was dazu führt, dass Songs von heute genauso klingen wie Songs, die 25 Jahre alt sind.

      Ich kann es schwer beschreiben, aber wenn man es einmal herausgehört hat, dann kann das Label "Goth" ziemlich einfach appliziert werden. ;)

    • Vor 3 Monaten

      Okay, danke für eure Antworten.
      "...wenn man es einmal rausgehört hat..." Ich weiß schon, was du meinst, aber das ist m.E. diese düstere Grundstimmung, meist durch den Gesangsstil und die Texte.
      Aber rein musikalisch (also Harmonik, Rhythmus, Instrumente, Riffs etc.) hat das halt für mich nichts spezifisches, sondern bewegt sich alles größtenteils in so einem Standard-80er-Stil, vieles könnte auch von U2 oder Police sein, mal ein bisschen Metal, mal ein bisschen punkig, aber nie kantig sondern für meine Ohren eher anbiedernd.
      Das mit dem Korsett kann ich nachvollziehen. Aber im Gegensatz zu anderen eng abgegrenzten Stilen (minimal Techno, whatever) wird da keine spezielle Nische besetzt, sondern das spielt sich für mich alles mitten im Allerwelts-Standard-Popformat ab.
      Vielleicht rede ich ja Unsinn, vielleicht versteht ihr ja was ich meine...

  • Vor 3 Monaten

    Hier eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Lumpenproletariern:
    https://www.youtube.com/watch?v=_cBaYTSBll4
    Bürgisöhnlichen Meddlkaschberjournos gefällt das nicht.