laut.de-Kritik

Charme siegt über Dilettantismus.

Review von

Die meisten Bands nehmen sie mit ins Grab, verstecken sie im Keller oder im Schrebergarten, Hauptsache niemand findet sie. Die Rede ist von "fragwürdigen" Demos, die ganz plump den Beweis dafür liefern, dass die meisten Songs als Skizzen mit schiefem Gesang, noch schieferen Gitarren und, je nach Örtlichkeit, einem kleinen Solo von Straßenbahn, Bus oder Mama, die mit frisch geschmierten Stullen die Bandprobe jäh unterbricht, einigermaßen dürftig erscheinen.

Um es vorweg zu nehmen: Farin Urlaubs Dilettantismus auf den Stücken, die, wie der Pressetext verrät, nicht nur "schlecht sind, sondern auch noch lausig klingen", hält sich in Grenzen. Das dürfte die Farin-Liebhaber kaum tangieren. Die geben sich die alten Schinken in Gänze, die der Sänger von den 80ern an bis hin zu fast aktuellen Outtakes von 2013 chronologisch in Albumverlauf ordnet.

Warum sollte man sich auch am Garagen-Sound stören, den der billige Kompressor zu Anfang regelmäßig in die Knie zwingt? Erst recht, wenn über den schrulligen Punk-Gitarren jemand was von Liebesbeziehungen zwischen Mensch und Schaf am "Arsch der Welt" erzählt ("A.U.S.T.R.A.L.I.A.")? Zu ulkig, abgedroschen, atheistisch oder schwarz kann der Humor hier streng nach dem Motto "Power of Blöd" gar nicht sein. Zum Glück nicht. Bei so ziemlich jeder anderen Band würde man bei einer solchen Worst-Of-Kompilation wahrscheinlich hilfeschreiend davonlaufen und sich wünschen, die Büchse der Pandora niemals angerührt zu haben.

Die "Berliner Schule" dürfte hingegen niemanden, der den Exzentriker kennt, abschrecken und jenen, die ihn nicht kennen, zumindest bei Zeilen wie "Sagt der Hund zum Gnu: Ich kann lauter bellen als du. Das ist blöd, das ist so blöd, dass ich beim Singen erröt'. Aber ich muss es singen, weil es hier steht, ich bin nur der Interpret" den ein oder anderen Schmunzler abringen.

Wer sich so nackt und von seiner angreifbarsten Seite zeigen kann, ohne sich bloßzustellen, der muss sich über die Jahre schon ein ziemliches unverrückbares Denkmal gesetzt haben. Und er braucht eine Anhängerschaft, die ihre Helden auch so, unrasiert und mit Fahne, nicht verschmähen würde. Check, und nochmal check. Denn Farin sagt an:

"Allen, die uns heute Abend unsern Spaß nicht gönnen wollen, erklären wir den Krieg. Wir sind, was wir sind, und das ist alles, was wir sind." Gehts konkreter? Gerne: "Hallo, ich bin der Arsch der Woche. ich bin nicht mehr hip, hab 'nen schlechten Trip, ich hab'n Zug verpasst, bin auf 'nem absteigenden Ast." Zusammengefasst ist das dann 100 Prozent "Uncool".

Dass diese Selbstwahrnehmung sich das ein ums andere Mal relativ Borderline-reif wandelt, hat aber wohl weniger mit dem vier Dekaden umspannenden Material oder einer Midlife-Crisis zu tun, als viel mehr mit der generell bekanntlich unverblümten Ausdrucksweise Urlaubs in beide Richtungen: "Ich bin super, was bist du? Du bist nur 'ne blöde Zicke. Ich bin prima, gib es zu!", poltert der mittlerweile 54-Jährige in "Ich Will Dich Nicht Mehr" von 2004 zu rüpelhaftem Schülerbandgeprügel.

Das Blankziehen des Ärzte-Frontmanns beschränkt sich aber nicht ausschließlich auf Gags unter- und oberhalb der Gürtellinie. Die Resterampe hat auch einen matter gestimmten Farin zu bieten, wie etwa auf "Ich Bin Allein" aus dem Jahr 1994.

Langsam nimmt die Aufnahmequalität dann doch auch spürbar zu. Man zuckt nicht mehr innerlich zusammen, wenn Bela B. auf den stählernen Rand seiner Felle schlägt. So ein bisschen fühlt sich das gemeinsame Wühlen in angestaubten Demos auch an wie ein sehr privater Einblick ins Poesiealbum. Dabei findet sich zwischen manch verschollenem Schatz logischerweise auch genug Egales. Das aber stört in dieser Zusammensetzung nicht weiter.

Zur Millenniumwende muss dann zwischendurch doch mal noch klargestellt werden, wer die beste Band der Welt ist. Das bekommen auf "Fucking Hell" mit breitbeinigem In-die-Fresse-Rock alle Zweifler auch direkt unter die Schädeldecke gehämmert. Wen das noch nicht überzeugt, den tröten einfach die Bläser in "Bestimmt...!" nieder. Vor protziger Jailhouse Rock-Kulisse beschwert sich Farin nachvollziehbarerweise: "Heute Abend geh' ich mal wieder raus. Ich hoffe, dass ich nicht zu viele Frauen treff', denn die ziehen sich ständig aus."

Es ist eine Binsenweisheit, dass sich niedrige bis keine Erwartungen, zumal wenn vom Künstler selbst geschürt, relativ unschwer überbieten lassen. Doch der eine oder andere Track versprüht nicht nur in seiner radikalen Rohfassung Charme, sondern würde sich - wenngleich nach eigenen Aussagen vom Racing Team und den Ärzte-Kollegen "mit Recht abgelehnt" - gut in so manches der letzten Alben einfügen. Zum Beispiel "Date Avec Moi", das das perfekte Rezept preisgibt, wie man statt zu zweit allein, allein zu zweit sein kann. Oder etwa das gut ballernde "Bier In Mir".

Nach knapp einer Stunde vierzig siegt der Charme über den Dilettantismus. Man hat das Gefühl, man ist dem Künstler näher gekommen als auf den letzten beiden Ärzte-Alben zusammen.

Trackliste

  1. 1. Turmstraße
  2. 2. Schatten
  3. 3. A.U.S.T.R.A.L.I.E.N.
  4. 4. Christine
  5. 5. Ich Bin Ein...
  6. 6. Bernd Hat Es Gemacht
  7. 7. Abzweig Leipzig
  8. 8. Was Wir Sind
  9. 9. Uncool
  10. 10. Kaum Mehr Als Ein Traum
  11. 11. Ich Bin Allein
  12. 12. Mein Mädchen
  13. 13. Bitte Lass Mich Schlafen
  14. 14. 1000 Jahre Tot
  15. 15. Intro
  16. 16. Fucking Hell
  17. 17. Bestimmt...!
  18. 18. Luzifer
  19. 19. Bist Du Dabei?
  20. 20. Ein Guter Tag
  21. 21. Ich Will Dich Nicht Mehr
  22. 22. Date Avec Moi
  23. 23. The Power Of Blöd
  24. 24. Bier In Mir
  25. 25. Hier Sind Die Ärzte
  26. 26. Warum Auch Immer
  27. 27. Lieblingslied
  28. 28. Antimattergun

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