laut.de-Kritik
Rebellischer war wohl nur Alt-Punk Friedrich Merz.
Review von Michael SchuhEs fällt schwer, sich beim Anblick des neuen Kunze-Albumcovers spontan an grausamere Motiv-Entgleisungen in der Geschichte der Artwork-Ästhetik zu erinnern. Doch dafür hatte der Osnabrücker ja schon immer ein goldenes Händchen (man erinnere sich nur an "Brille": Kunze als OLiBa Superstar). Heute: Kunze als halbhumanoider Future-Robocop mit Warnzeichen auf der Stirn. Oh, Hilfe!
Schwarz-gelb; die Arbeitskleidung der Dortmunder Borussia, der Schriftzug der Heavy-Lachnummer Stryper und die Signalfarbe, die der Internet-Surfer von den "under construction"-Seiten her kennt. Womit wir inhaltlich wieder bei Herrn Kunze sind. Aber nein, natürlich geht es hier rein assoziativ um die Verbindung zum warnenden Albumtitel: Vorsicht! Halt! Kunzes 21. Studiowerk.
Der große Geschichtenerzähler lässt uns erneut teilhaben an seinen Exkursen in die menschlichen Abgründe. So nachzuhören im Opener (mit Trip Hop-Beats!) und in der ersten Single "Pegasus", wo Kunze das fliegende Pferd aus der griechischen Mythologie entlehnt, um ... ja, um was eigentlich zu sagen? Schon hier nervt die emotionsgeladene Aufgesetztheit, die gequält bemühte Intellektuellen-Lyrik, die manch verwirrter Geist gar als Wortakrobatik auslegt. Hört man.
Wenn ich aber Sätze höre wie "Hol mich raus aus dieser Retro-Zentrifuge", dann muss ich schreien, Herr Kunze, es tut mir leid. Nach Obszönität heischende Peinlichkeiten wie "du bist mein stiefelleckrer Gott, selbst deine Dreier find ich flott" entbehren jeden Kommentars.
Der Mann, der seinen Deutschrock nicht als Heilsbringer-Inszenierung in die Stadien trägt, beeindruckt über die volle Distanz mit graumeliertem Pseudo-Liedgut. Nicht allein die erschreckende Ähnlichkeit zu Pur ("So Tun Als Ob", "Halt!") macht mich schwindeln, richtig schlimm ist vor allem - wie gesagt - das seichte Plätschern in bedeutungsschwangeren Worthülsen.
Höhepunkt des Sinndesasters: "Talk Show Schmutz". Ein in der Wir-Form verfasstes Pamphlet gegen unsägliche Nachmittags-Talkshows im deutschen TV. Selbstanklage? Also Heinz, nur weil du dir diese Shows reinpfeifst, brauchst du nicht gleich die ganze Menschheit zu Big Brother-Grinsbacken degradieren. Ganz zu schweigen vom musikalischen Rahmen des Songs, der einen Maffay-Fan vor zwanzig Jahren nur mit hoher Belohnung zum Volume-Regler hätte greifen lassen.
In "Abschied Muß Man Üben" entlädt sich dann im Titel Kunzes ganzer Frust über die Rechtschreibreform; rebellischer war wohl nur Alt-Punk Friedrich Merz. Für Simple Minds-Fans aber, wie uns die HRK-Homepage verrät, garantiert ein Leckerbissen. Na denn, guten Appetit!
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