laut.de-Kritik
Marvin Gayes verlorenes Album.
Review von Dani FrommAchtung, Achtung! Wenn euch jemand weismachen will, man habe bei Aufräumarbeiten in Berry Gordys Haus unter irgendeinem ollen Dielenboden die verloren gegangenen Masterbänder von Marvin Gayes Album aus dem Jahr 1971 gefunden: Schaut genau hin. Es könnte leicht sein, dass euch jemand zu foppen und euch statt dessen Jalen Ngondas Debüt unterzujubeln versucht. Das klingt nämlich genau so: nach Motown-Soul der allerpursten Sorte.
Es verblüfft eigentlich nicht weiter: Als Hort musikalischer Revolutionen haben sie sich bei Daptone Records noch nie hervorgetan. Dafür darf man das Label getrost als Gütesiegel für handwerklich tadellosen, qualitativ höchstwertigen Retro-Sound verstehen. Ob etwas im Trend liegt oder auch nur irgendwie up-to-date wirkt, juckt dort offenbar niemanden. Zumindest nicht, so lange es Soul hat und groovt.
Auf "Come Around And Love Me" trifft beides zu. Ohne irgendeine Aufwärm-Phase wirft sich Jalen Ngonda von der ersten Sekunde an mit Leib und Seele ins Geschehen. Das kann er sich auch bedenkenlos trauen: Die fantastischen Musiker, die ihn flankieren, schütteln seiner Stimme dicke, weiche Kissen auf.
Pointierte Basslinien prägen das Bild, Drums, Percussion und Wah-Wah-Gitarren setzen Akzente. Opulente Streicher und Backgroundgesänge polstern das Ganze zusätzlich üppig auf. Beeindruckend, wieder einmal, wie die Akteur*innen aus dem Daptone-Kosmos ihr Bandgefüge wie einen einzigen, in sich stimmigen und dabei unverschämt eleganten Organismus wirken lassen. Wie gut aufeinander eingespielt können Musiker*innen eigentlich sein?
Bei der Entstehung dieses Albums hatten Mike Buckley und Vincent Chiarito die Finger mit im Spiel. Beide entstammen den Reihen der Extraordinaires, und so wie die einst Charles Bradley den Rücken frei hielten, erledigen sie das nun für Jalen Ngonda. Der revanchiert sich mit einer Gesangsleistung, die die scheinbaren Widersprüche "überbordende Emotionen" und "totale Stimmkontrolle" in wahrhaft faszinierender Weise miteinander in Einklang bringt. Jedes Jauchzen, jedes "Uuuuh", jeder einzelne Ton sitzt, aus jeder Note quillt zugleich endlos viel Gefühl. Bei dieser Darbietung keine Parallele zu Marvin Gaye zu ziehen, an dessen Stimmfarbe Ngondas Gesang zudem erinnert: ein Ding der Unmöglichkeit.
Im Gegensatz zu Motowns ehemaligem Aushängeschild scheint es Ngonda jedoch (noch) nicht satt zu haben, Lieder zu singen, in denen sich "moon" auf "June" reimt: Die gesellschaftskritische Komponente, die "What's Going On" zu dem Ausnahmewerk machte, das es geworden ist, geht "Come Around And Love Me" vollkommen ab. Inhaltlich dreht sich hier alles um den Strudel der Gefühle, in den eine*n eine frisch aufkeimende Liebe stürzt. Für die Beteiligten sicherlich weltbewegend, für alle anderen dagegen: eher nicht so. Das macht aber nichts, es muss ja nicht immer sozialkritischer Sprengstoff sein. Manchmal erscheint es auch voll angemessen, sich dem Strom der Emotionen zu überantworten und sich treiben zu lassen.
Zweieinhalb, drei, dreieinhalb Minuten: Länger braucht Ngonda nirgends, um sein Publikum restlos um den Finger zu wickeln. Gegen derart klassischen Soul ist glücklicherweise einfach immer noch kein Kraut gewachsen. Erst recht nicht, wenn ihm (wie im Engtanzrunden-tauglichen "Lost" oder im sich genauso im langsamen Walzer-Takt wiegenden "What A Difference She Made") der Blues aus jeder Zeile tropft.
Ja, "innovation" wird hier, wenn überhaupt, klein geschrieben, der Aufbruch zu neuen musikalischen Horizonten fällt aus. Wer sich auf dieses Album einlässt, katapultiert sich viel mehr locker 50 Jahre in die Vergangenheit zurück. Jalen Ngonda und Mitstreiter haben ihre akustische Zeitkapsel allerdings derart liebevoll, detailreich und sorgfältig bestückt, dass man der Aufforderung aus dem Titel dennoch nur Folge leisten kann: "Come Around And Love Me"? Schon unterwegs!
2 Kommentare mit einer Antwort
Dieser Kommentar wurde vor einem Jahr durch den Autor entfernt.
Marvin Gaye`s Master Tapes? Die klingen wohl in der Tat etwas besser, als Herr Ngonda. Auch wenn er nicht schlecht ist.
Klick mich: https://www.youtube.com/watch?v=mq1HmQIzkJI
... unabhängig davon habe ich mir einige Vinyl-Issues vor ein paar Tagen gesichert. Die fangen jetzt schon an, im Preis zu steigen. .-)