laut.de-Kritik

Gurrende Tauben, Klangschalen und Blut für Sex.

Review von

Schon mal auf einer Dachterrasse übernachtet? Während man in Italien im Corona-Frühling gerade noch den Balkon betreten darf, kann man sagen: Luxus! Auf einer Dachterrasse zu schlafen, ist schön, bis einen die "Mourning Doves" wecken. In den Ohren der Naturliebhaberin Jhené Aiko klingt das nervtötende Gurren von Tauben, wie Gesang, "when the mourning doves sing for us". Auf ihrer CD übernehmen geloopte Töne aus kristallenen Klangschalen die Stimmen der geflügelten Gäste. "Chilombo" hat trotz dieser Vorrede und trotz des exotischen Plattentitels nichts mit Esoterik zu tun, sondern ist eine handfeste R'n'B- und Rap-Platte erster Güteklasse. Zu Recht stieg das Album auf Platz #2 der US-Charts ein.

R'n'B-Beats prallen hier auf weiche, vage Töne aus Klangschalen. Jhené (sprich Dschi'neh) singt sauber und nutzt nur behutsam Auto-Tuning-Tools. Thematisch geht es um Liebe, Romantik, Sex, Bindung, Trennung, Wut. Zur Veranschaulichung tragen ein weiblicher Gast und mehrere Herren bei, teils große Namen wie Nas, John Legend und Ty $ Sign und der famose Ab-Soul, der seine Sache als Jhenés verbaler Sparring Partner echt gut macht.

Gelassen, in betörender Ausgeglichenheit trägt die Westcoast Lady auf "Chilombo" ihre Gedanken, Hoffnungen, Wünsche und Beobachtungen vor. Und Gebete ("Pray For You"). Wenn sie mal kieksig und dramatisch anmutet, wie im Duett mit John Legend, dann passt genau das in den Kontext, zur kreischenden, flehenden E-Gitarre und zum Text in "Lightning & Thunder (ft. John Legend)", wo es hörspielartig blitzt und donnert.

Die Kalifornierin pflegt das richtige Feeling für Timing und inspirierte Momentaufnahmen. "Chilombo" lädt ein zu einer Reise nach Hawaii. Dort hat die multikulturelle Sängerin familiäre Wurzeln. Sie lernte die Inselgruppe und deren Vulkane in mehreren Wanderungen kennen, spürte die eindrucksvoll mächtige Natur und kam auf die Idee, den therapeutischen Effekt ihrer Reise zur inneren Ruhe durch den Sound von Kristallklangschalen zu vertonen.

Solche Klangschalen enthalten mineralisches Quarzmaterial, aus dem sich auch Glas herstellen lässt. Vorhersagen lässt sich der Klang solcher Schalen nicht allzu sehr. Vor allem folgt er nicht den "reinen" Tönen von Tonleitern, wie ein gestimmtes Instrument das täte. Dem Album verleiht das den Reiz, über die oft als künstliche Laptop-Musik empfundene R'n'B-Musik etwas Eigenartiges, Verschwommenes zu legen. Anspieltipps für diesen Vintage-Sound: "One Way St. (ft. Ab-Soul)", "Define Me", "Surrender (ft. Dr. Chill)". Auch Jhenés Stimme hält eine interessante Balance aus 'naturbelassen' und minimal verfremdet.

Vom heutigen Trap-Beat-Puddingsound hebt sich die Hawaii-Reisende allemal ab. Von eleganter Wortwahl springt sie dennoch recht flexibel zum Proll-Repertoire aus "Pussy" ("P*$$Y Fairy (OTW)"), spricht von bullshit und fucking, auch wenn sie anfangs in "B.S. (ft. H.E.R.)" noch zögert, aus "bullshit" nur das 'B' rausbringt und dann aber doch vom Leder zieht.

Jhené Aiko setzt auf Anspruch und Experiment, gepaart mit leichter Unterhaltung. Im Gedächtnis setzen sich Zeilen wie "Might fuck around / you have to pay me in blood" aus dem "Triggered (Freestyle)" fest.

Von ihren Charts-Rängen in den anglophonen Ländern können die gefeierten Stars der Stunde Megan Thee Stallion, Doja Cat und Don Toliver erst mal nur träumen, und trotzdem nimmt sie hierzulande bis dato kaum jemand wahr.

Der Song, der am meisten mit der Spotify-Feelgood-Masse fließt, "Party For Me (West Coast Version) (ft. Ty $ Sign)" erscheint mit seiner Hook-Zeile "party hard party hard party hard" und seiner Drum Machine zwar aufs Erste derb. Aber Drum Machines besitzen hier Bass, Tiefe und Dynamik. Mit Jhené und Ty würde man sich nach dem Hören des Tracks definitiv auch gerne auf eine Party treffen. Besonders wenn sie dort so befreit lacht wie auf dem Track.

Trackliste

  1. 1. Lotus (Intro)
  2. 2. Triggered (Freestyle)
  3. 3. None Of Your Concern (ft. Big Sean)
  4. 4. Speak
  5. 5. B.S. (ft. H.E.R.)
  6. 6. P*$$Y Fairy (OTW)
  7. 7. Happiness Over Everything (H.O.E.) (ft. Future & Miguel)
  8. 8. One Way St. (ft. Ab-Soul)
  9. 9. Define Me
  10. 10. Surrender (ft. Dr. Chill)
  11. 11. Tryna Smoke
  12. 12. Born Tired
  13. 13. Love
  14. 14. 10k Hours (ft. Nas)
  15. 15. Summer 2020
  16. 16. Mourning Doves
  17. 17. Pray For You
  18. 18. Lightning & Thunder (ft. John Legend)
  19. 19. Magic Hour
  20. 20. Party For Me (West Coast Version) (ft. Ty $ Sign)

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Jhené Aiko

"Ich bin zu einem Viertel Japanerin. Das ist der einzige genaue Wert über meine Herkunft, den ich mit Sicherheit weiß, da mein Großvater Japaner ist." …

Noch keine Kommentare