laut.de-Kritik

Mehr Nostalgie als Ostalgie, toll getextet und gespielt.

Review von

Die Band Karat gründete sich vor genau 50 Jahren in der DDR. Vom ersten Album ist heute nur noch der Gitarrist dabei. Ihr viertes, "Der Blaue Planet", attackierte 1982 die Ost-West-Aufrüstungs-Spirale unmissverständlich. Trotzdem schlüpfte die Platte durch die damals übliche Zensur des Kulturministeriums und erschien auf dem Staats-Label Amiga. Karat spülten dem einzigen Platten-Presswerk dringend benötigte Devisen in die Kasse, denn "Der Blaue Planet" verkaufte sich millionenfach. Auch im Westen wurde es ein Klassiker. Jetzt liegt das neue Album "Hohe Himmel" von der Kult-Band vor, das in Teilen wunderschön ist, auch wenn es sich jetzt um den Sohn des damaligen Sängers, andere Liedautoren, eine andere Band handelt und sie im Opener "Immer Noch Da" claimen, "wir sind immer noch wir".

Hinsichtlich der Sounddesigns bleiben die Berliner den 1970ern und 1980ern verhaftet, und das auf sympathische, nostalgische Weise. Da sie spielerisch interessante Arrangements schneidend präzise umsetzen, kommt das Retro-Outfit weitaus besser rüber, als dass es ein billiger Abklatsch wäre. Das Synth-Outro des Songs "Schlafendes Herz" nicht Ultravox zuzuordnen, fällt freilich genauso schwer, wie im angejazzten Keyboard-Rock der Highlights "Was Soll Der Geiz?" und "Unbesiegbar" nicht die Greg Kihn Band wahrzunehmen.

Im rhythmischen Drive wittert man auch bald "Long Train Running" von den Doobie Brothers, die tollen Synkopen nach Art eines Bruce Hornsby fügen sich gut ein. Der Titelsong "Hohe Himmel" setzt überzeugend auf eine Uriah Heep-Foreigner-Barclay-James-Harvest-Mischung mit Sitar-Akzenten.

"Nicht Egal" lässt als Best Of-Deutschrock schmunzeln, das von Udo bis BAP möglichst viel subsumieren möchte, "Vor Ein Paar Jahren" zitiert wohl Maffay (fair, da er Karat viel verdankt) und die Scorpions. Und in den wachen Sphären-Balladen "Trau Dich" und "Winterschlaf" reifen die Commodores zur späten Referenz-Blüte. Das Quintett kann polyrhythmischen Softsoul und Laid-Back-Offbeat.

Die Themen der Ostalgie-Symbol-Band reichen vom privaten Trostspenden in "Trau Dich" über philosophische Fragen in "Der Mensch" ("wie viele Tage werden's sein / bis die Menschen sich vereinen? / wie viele Tage werden's sein / bis die Erde nicht mehr weint?") bis zu politischen Statements in "Was Soll Der Geiz?" Dieser Track weckt sowohl musikalisch mit seiner Schubkraft und Wah-Wah-Gebratze wie im Froschteich die Aufmerksamkeit, mit seinem interessanten komplexen Harmonieverlauf, wie auch mit seinem anspielungsreichen Text pro Zivilcourage.

Angesichts vieler Protestwähler:innen in ihren Fan-Hochburgen kann Frontmann Claudius Dreilich wohl nur verschlüsselt mitteilen, wo der Schuh drückt: Protest und Widerstand gegen "Geiz", wörtlich genommen, können sich auf die restriktive Haltung des AfD-Lagers in Bezug auf Sozialleistungen beziehen oder auf die zurückhaltende Lohnentwicklung insbesondere in den östlichen Bundesländern. Andererseits kann sich das Wort metaphorisch auf den "Geiz" auf demokratische Beteiligung beziehen, niedrige Wahlbeteiligung, Desinteresse an Lösungen, aufgeheiztes Meinungsklima mit Scheren im Kopf. Jedenfalls ist es ein wirklich schlau gemachtes Lied, das zum Nachdenken und zugleich zum Mitwippen anregt und den Nerv der Zeit trifft. "Ja sagen kannst du bei Umfragen, aber wenn sie dich schlagen, kostet's dich Kopf und Kragen / nein sagen kannst du an manchen Tagen, aber wenn sie dich fragen, kostet's dich Kopf und Kragen / wenn du nur schweigst / du glaubst, Gedanken sind ohne Schranken, und du kannst wählen, ob sie dich quälen. / Meine Gedanken wollen keine Schranken / beim Überlegen sich frei bewegen."

Die Combo balanciert gut zwischen der politisierten Vergangenheit der Marke Karat, in der auch nicht jeder Text literaturpreisverdächtig war, und Smash-Hooks, die eine Masse gut mitsingen kann, etwa in "Ausgeträumt" oder "Unbesiegbar". Natürlich kann auch das gut klingen, was einfach ins Ohr flutscht: "Wir sind unbesiegbar / sind fantastisch drauf / und wenn wir einmal fallen / steh'n wir wieder auf." Der Track "Wir" punktet als klassische Liedermacher-Kunst: "Arm und gut betucht / selig und verflucht / spindeldürr und rund, na und?! / wir sind Kinder von einer Welt / wir sind gütig und hart / verbohrt und vernarrt / wir sind Träumer mehr, als wir soll'n. / Gegen jeden Verstand bau'n wir Schlösser aus Sand / wir sind Zauberer, wenn wir es wollen. / Wir sind falsch und echt / gut und ungerecht / grausam und genial - egal. / Wir sind Kinder von einer Welt / wir sind biegsam und fest / relaxt und gestresst (...) ungehobelt und glatt / voller Sehnsucht und satt." - Freilich, nicht jede Metapher gelingt, "hohe Himmel schmecken nach Sonne / bunte Vögel schwimmen im Blau" wirkt recht unbeholfen.

Mehr als 80 Prozent der Konzerte auf der Jubiläums-Tour spielen sich bei den 15 Prozent Bevölkerung von Meck-Pomm, Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen ab. Es gibt aber geographische Ausreißer: In Hannover etwa findet ein Zusatzkonzert statt, ins benachbarte Celle kommen sie vier Monate später auch. Die Zielgruppe scheint also nicht ganz so eindeutig, aber verweist doch erschreckend auf ein 35 Jahre der Wiedervereinigung musikalisch gespaltenes Land. "Hohe Himmel" lässt sich natürlich auch sehr gut in Mainz hören, an der Mosel oder am Bodensee, auch wenn der Tour-Plan wahrlich nicht danach ausschaut.

Trackliste

  1. 1. Immer Noch Da
  2. 2. Ausgeträumt
  3. 3. Hohe Himmel
  4. 4. All Das Schenk Ich Dir
  5. 5. Nicht Egal
  6. 6. Schlafendes Herz
  7. 7. Was Soll Der Geiz?
  8. 8. Vor Ein Paar Jahren
  9. 9. Unbesiegbar
  10. 10. Trau Dich
  11. 11. Winterschlaf
  12. 12. Wir
  13. 13. Der Mensch

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