laut.de-Kritik
Mehr Feuerkraft als die meisten Länder ...
Review von Giuliano BenassiDie Mitglieder von Kiss sind bekannterweise keine Freunde bescheidener Worte. "Als wir zum ersten Mal mit dem Orchester probten, war der Weg vor uns ein gänzlich unbekannter. Wir hatten keine Ahnung, in was für eine Welt wir uns gerade begaben", erzählen sie zum Beispiel. "Wir hatten das Gefühl, dass zwei Welten zusammen stießen. Aber wir glaubten fest daran, dass aus der Kollision etwas Unbekanntes und Spektakuläres entstehen würde." Oder, wie Großmaul Gene Simmons zu Protokoll gibt, "war das Orchester gewohnt, Beethoven, Mozart oder Schubert zu spielen. Jetzt spielten sie 'God Of Thunder'. Es war zwar surreal, aber es passte gut".
Selbstironie gehörte bei KISS leider nie zum Repertoire, witzig und symphatisch sind sie aber zweifellos. Bei aller Überheblichkeit ist ihnen selbst nach 30 Jahren im Business die Aufregung und Freude über Show und Fanbegeisterung anzumerken. 50.000 fanden am 28. Februar 2003 im Melbourner Telstra Dome zusammen, um den gemeinsamen Auftritt der Detroiter Metalband mit dem 60-köpfigen Orchester der australischen Stadt zu erleben. Ohne Zweifel ein Konzert der Superlative: 250.000 Watt, 280 Mikrofone, 48 Kameras und sechs mobile Aufnahmestudios sollten Sound und Bilder bis in den letzten Haushalt liefern. "Wir besitzen mehr Feuerkraft als die meisten Länder der dritten Welt", meint Simmons zu Bühne und Austattung.
Wer nicht dabei war, darf sich das Ganze nun auf DVD angucken. Da es seit zwei Monaten bereits eine Doppel-CD der Veranstaltung gibt, ist der Inhalt nicht gänzlich überraschend. Bis auf kleine Änderungen in der Reihenfolge der Lieder gibt es kaum Unterschiede, von der Länge der Ansagen abgesehen. Durch den Zusatz von Bildern gewinnen die Stücke allerdings an Bombast.
Der Gang auf die Bühne wirkt eher ernüchternd. Sänger Paul Stanley trägt eine Perücke und hat mittlerweile ein unübersehbares Bäuchlein, zudem sieht er mit seinen Plateauschuhen wie eine Karikatur seiner selbst aus. Trotzdem zieht er mit dem ersten Riff zu "Strutter" das Publikum, auch das vor dem Fernseher, in seinen Bann. Mit wackelndem Arsch stiehlt er selbst Bassist Gene Simmons erstmal die Show, so sehr dieser auch seine ellenlange Zunge bemüht und bei den Zuschauern begeisterte Nachahmer findet. Das Stadion bebt, und damit auch zahllose familientauglich verhüllte weibliche Brüste. Was neben der FSK-Vorschriften vor allem an der Tatsache liegen dürfte, dass erstaunlich viele Kinder anwesend sind. Fast ausnahmslos geschminkt, versteht sich.
Nachdem "Calling Dr. Love" und "Psycho Circus" für erste Höhepunkte sorgen, erscheint Dirigent und Arrangeur David Campbell mit zwölf Mitgliedern des Orchester. 'Ensemble' nennen Kiss das und geben ihre langsamen Stücke zum Besten. Schlagzeuger Peter Criss hat vor lauter Freude einen Frosch im Hals, weil er zum ersten Mal die Schnulze "Beth" nicht mit Tonbandbegleitung, sondern mit richtigen Instrumenten singen darf. "Sure Know Something" ist nochmal etwas rockiger, bevor "Shandi" dann doch eine Spur zu poppig wirkt.
Doch das Vorausgegangene gerät in Vergessenheit, als der große Vorhang hinter der Band fällt, und das Orchester zum Vorschein kommt - 60 klassische Musiker mit frei gewählten Kiss-Visagen. "Eine schlechte Rockband mit einer Riesenshow ist trotzdem eine schlechte Rockband", hat Simmons zuvor ins Mikrofon diktiert. Er meint das offensichtlich nicht selbstkritisch und die Tatsachen geben ihm recht. Obwohl die gemeinsamen Proben nur drei Tage dauerten, steigern sich alle Musiker begeistert zu einer Höchstleistung. Hören sich die ersten zwei Stücke noch etwas ungewohnt an, heizt ihnen das Publikum durch den Mitgröhlrefrain "Do You Love Me" ordentlich ein. "Shout It Out" nehmen alle Beteiligten durchaus wörtlich, bevor mit "God Of Thunder" die Gene Simmons-Show beginnt: Erst bekleckert er sich literweise mit Filmblut, dann fliegt er an die Decke und zieht dämonische Fratzen. Bei "Love Gun" ist es Stanley, der durch das Stadion gleiten darf, um am anderen Ende auf einer kleinen Bühne zu landen. Bei "Black Diamond" hebt Criss samt Schlagzeug in einem Feuerwerk-Regen ab. Lediglich Gitarrist Tommy Thayer bleibt die eigene Einlage verwehrt, aber er ist ja auch erst seit Kurzem dabei. Dafür erledigt er seinen Job fehlerfrei, sieht im Vergleich zu seinem Vorgänger Ace Frehley auch mit Schminke aber viel zu gesund aus.
Das Finale ist eingeläutet. Ein kaum hörbarer Kinderchor bringt eine Note Kitsch in "Great Expectations". Wohl um die Jugendlichen nicht zu erschrecken, hat Simmons sein Gesich halbwegs gereinigt und hält seine Zunge ausnahmsweise mal im Mund. "I Was Made For Lovin' You" bringt das Stadion erneut zum Tanzen, bevor die "Hymne des Rock'n'Rolls" (Stanley), "Rock'n'Roll All Night" noch mal alle in Ekstase versetzt, und ein Konfettiregen Band und Publikum zu ersticken droht. Mit finaler Feuerwerksorgie und artiger Verbeugung vor den Zuschauern ist das Spektakel zu Enden.
Dass der gemeinsame Auftritt sich sowohl auf der ersten wie auf der zweiten DVD findet, stört nicht allzu sehr. Wohl aber, ein belangloses Fernsehinterview mit Playbackauftritt, dass am Ende des Konzerts noch zu sehen ist.
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