Details

Datum: 23. — 25. September 2010
Location: Reeperbahn
Reeperbahn
20359 Hamburg
Alle Termine ohne Gewähr

Review

laut.de-Kritik

Der Geist der Beatles, Ray Cokes und der Entdecker Madonnas.

Review von Artur Schulz

50 Jahre Beatles, fünf Jahre Reeperbahn Festival, 17.000 Besucher: Das passt. Und wie im Vorjahr bot die inzwischen international beachtete Veranstaltung einen ansprechenden Mix verschiedenster Kulturelemente. Natürlich steht die Musik stets im Vordergrund, des in die Bereiche Music, Campus und Arts unterteilten Festivals. Konkret: 190 verschiedene Acts an drei Tagen. Mit eingebunden sind viele weitere Programmpunkte, beispielsweise die beim Publikum so beliebte Flatstock-Poster-Convention und ein Comic-Festival. Und auch das Kino findet seinen Platz im Rahmen des UNERHÖRT! Musikfilmfestivals.

Da locken Streifen mit vielversprechenden Titeln wie "Harrys Comeback - Letzter Puff Vor Helgoland" oder "Dirty Princess – Mit Brennenden Höschen Gegen Das Parfüm Des Kapitals". Gerade diese Vielseitigkeit hebt die Reeperbahn aus der Masse der Festivals heraus. Musikfans wie Kulturtreibende und Besucher aus der Media-Branche kommen hier voll auf ihre Kosten. Längst hat sich der Campus mit zahlreichen Panels zum international beachteten Treff in der Fachszene entwickelt.

Augenmerk auf junge Acts

Zur Eröffnung im Schmidt Theater begrüßen am Donnerstag Hamburgs erster Bürgermeister Christoph Ahlhaus, und Kulturstaatsminister Bernd Neumann die Gäste. Höhepunkt: der Auftritt von Produzenten-Legende Seymour Stein. Ein kleiner, grauhaariger Mann mit Gehstock betritt die Bühne - der Entdecker Madonnas. Er unterhält mit allerlei Insider-Anekdoten das Publikum und vergisst nicht, die besondere Rolle Hamburgs bei der Geburt zeitgenössischer Popmusik hervorzuhaben. Und stellt die These auf, dass erst durch den Durchbruch der Beatles zu Starclub-Zeiten England überhaupt in der Lage war, sich zur großen, heutigen Musik-Nation zu entwickeln.

Neben manch klangvollen Namen lohnt sich vor allem der Besuch unbekannter und junger Acts - etwa Moto Boy in der Hasenschaukel. Gibt es eine noch kleinere Location auf dem Kiez? Offiziell ist der Laden für 40 Besucher ausgewiesen - beim Eintreffen warten draußen bereits jede Menge Leute auf Einlass. Drinnen steht man dicht an dicht, gedrängt zwischen rund hundert Zuhörern. Und in der kleinen Ecke steht er, Moto Boy, ein junger, schwedischer Schlacks, bewaffnet allein mit E-Gitarre und seinen Songs.

Folk und Jazz

Und was für welche! Stimmungsvolle, berührende sanfte Lieder übers Leben und Lieben, und dann diese Stimme! Immer wieder begibt sie sich auf eine aufregende Reise in höchste Klangregionen, Moto Boy lässt die Engel singen. Lohn sind begeisterter Applaus und strahlende Gesichter im Publikum.

Für Marie Fisker ist es nun schon zu spät - aber ich komme rechtzeitig zu Grant Campbell in Angies Nightclub, dem kleinen und gemütlich-elegant gehaltenen Corny Littmann-Laden. Der Schotte spielt vor mit wachsender Begeisterung lauschenden Zuhörern ein spannendes Folkrockset auf der Akustischen, bei der auch die Mundharmonika nicht fehlt. Kleine Pause, Luftholen und Austausch mit anderen Festival-Besuchern, da gehts in derselben Location schon weiter.

Hamel mit Band bringen zum Abschluss der Nacht die Stimmung zum Kochen. Mit seinem charmanten Mix aus Jazz, Pop und Soul wirkt der smarte Holländer wie ein leichtfüßiger Kumpel von Jamie Cullum - und beweist mit seinen glänzend aufgelegten Mitstreitern live noch mehr Qualität und Klasse als auf Platte. Ein beschwingtes Ende des ersten Tag.

Die Qual der Wahl

Freitag erneut sich die Qual der Wahl: Marina And The Diamonds? Folk-Legende Donovan? Edwyn Collins? Doch der Weg führt zu Balthazar im Beatlemania. Die Belgier liefern eine mitreißende Show mit meldodischem Alternative-Pop, der den Rock nicht außer Acht lässt. Partystimmung pur! Ein besonderes Erlebnis dann nach Mitternacht in der großen Freiheit mit den Briten von The Irrepressibles. Ist das noch Pop? Oder schon Klassik ? Oder gar nichts davon, oder doch beides? Egal, auf jeden Fall liefert die zehnköpfige Band einen lang nachhallenden Auftritt, der frenetisch umjubelt wird. Neben exaltiertem Gesang fasziniert die zehnköpfige Formation mit einer ausgefeilten Bühnenshow und phantasievollen Barock-Kostümen.

"Hamburg Hangover" mit Ray Cokes

Der Terminkalender am Samstag ist ebenfalls voll, u.a. wartet MTV-Legende Ray Cokes. Täglich um 17 Uhr findet im Schmidt Theater ein einstündiges Panel statt, bei der er selbst ausgesuchte Acts live auftreten lässt und mit ihnen talkt. Und das in der typischen Cokes-Manier - gleichermaßen amüsant wie schlitzohrig. Zum Abschluss der Show präsentieren Musiker einen innerhalb dieser Stunde geschriebenen Song, der aus während der Show vom Publikum zugerufenen Satzteilen besteht. Und so erblickt der "Hamburg Hangover" das Licht der Welt - das Publikum ist begeistert. Eine vollgepackte Stunde, die mit Auftritten von Lena Malmborg und Young Rebel Set viel zu schnell vorbeisaust.

Den eigentlich fest eingeplanten Auftritt der Fotos in der Großen Freiheit muss ich leider sausen lassen, denn um 19 Uhr ist Interviewtermin: OMD warten. Also raus aus der Reeperbahn, ab Richtung Mönckebergstraße. Im mehrstöckigen Saturn-Monstrum geben OMD einen Gig mit anschließender Autogrammstunde. Andy McCluskey und Paul Humphreys sind bei meinem Eintreffen nach dem Auftritt sichtbar angeschlagen. Kein Wunder, absolvieren sie doch in dieser Woche täglich wechselnde Besuche in verschiedenen hiesigen Großstädten, heute sogar zwei: Denn am Vormittag waren sie bereits in Berlin. Doch die Beiden präsentieren sich trotzdem humorvoll und locker.

"In Deutschland sind die Fans treuer"

Im Vorfeld des Gesprächs, das Paul mit einer Kippe aus meiner Schachtel nutzt, lässt Andy amüsante Interview-Begebenheiten dieser Tage Revue passieren. Die deutschen Fans liegen OMD sehr am Herzen - denn "sie sind eindeutig treuer, als es etwa in England der Fall ist. Da bist du, wenn du nur wenige Jahre mal nichts machst, sofort weg vom Fenster. Das ist hier bei euch völlig anders". Was die Tourbetreuerin bestätigt: In Deutschland absolvieren OMD mehr Promoauftritte als daheim (das vollständige Interview lest ihr in Kürze auf laut.de).

Auffallend angenehm während der ganzen Reeperbahn-Tage: Es werden keine Anstrengungen unternommen, um das St-Pauli-Straßenbild für Besucher womöglich zu glätten. Sichtbare soziale Probleme gehören hier dazu. Und auch nur dadurch kann sich St. Pauli paradoxerweise so faszinierend und trotz allem positiv präsentieren. Aalglatte Event-Ästhetik mag woanders stattfinden - so etwas haben die Bewohner hier nicht nötig.

Persönliche Zugaben

Und wieder die Hin- und Hergerissenheit dieser Tage, was das Angebot angeht: Bernd Begemann ist eigentlich ein Muss. Marit Larsen auch, mit schwerem Herzen landen auch Fehlfarben auf der Streichliste. Doch zuvor im Docks bei Nabiha vorbei geschaut, einer farbigen Dänin, die mit ihren fett gewürzten Soul- und Dancebeats aufdreht. Der willkommene Zwischenhappen, bis ein Traum vieler Musikfans für mich an diesem Abend in Erfüllung geht.

Beim Konzert spielt die Band auf persönlich geäußerten Wunsch, zum Schluss als Zugabe deinen Lieblingssong. Möglich machen das Lydia Daher und Band - ohnehin mein Tipp in Sachen Indie-Pop für den Herbst - mit dem umwerfenden "Hier Bei Mir". Die Tochter libanesisch/deutscher Eltern arbeitet hauptberuflich eigentlich als (mit Preisen und Stipendien ausgezeichnete) Lyrikerin. Unter dem Titel "Flüchtige Bürger" erscheint im Oktober das zweite Album.

"Besondere Lyrics irritieren manchen Zuhörer"

Das Beatlemania ist bei ihrem Auftritt überschaubar gefüllt. Doch Lydia und ihre beiden Mitstreiter spielen ein kurzweiliges Set, dem die Künstlerin mit ihrer dunklen, warmen Stimme einen ganz besonderen Zauber verleiht. Pop, Indie und ein mitunter kräftiger Rock-Anstrich bieten viel Abwechslung. Das Wichtigste: Die pointierten Texte, die sich dank ihrer Originalität wohltuend vom Einerlei der Szene unterscheiden. Musik mit Kopf und Herz.

Nach der Show erhalte ich auf Anfrage freundlich und unkompliziert die Gelegenheit, im Backstage-Bereich ein kleines Gespräch mit Lydia zu führen. Für sie bedeutet das Musikmachen und die Resonanz darauf noch immer so etwas wie eine Wundertüte, wie sie erzählt. Und wie wichtig es ist, trotz aller Eingängigkeit Wert auf besondere Lyrics zu legen: "Was viele Erst-Zuhörer vielleicht irritiert, eben weil man sich schon längst an eine gewisse Schlichtheit gewöhnt hat."

Das Herz von St. Pauli

Ich verabschiede mich in Richtung LaBrassBanda - und was da nach Mitternacht in der großen Freiheit abläuft, ist schlicht Musikalität und Party pur. Wegen Überfüllung werden später keine Besucher mehr eingelassen - drinnen kocht der Saal. Wie soll man die Musik der Bayern beschreiben? "Für manche ist es Bayerischer Gypsy-Brass, für andere wiederum Balkan-Funk-Brass oder noch viel besser Alpen-Jazz-Techno. Für uns ist es einfach die Musik, die aus uns raus muss!" Warum eigentlich Oktoberfest, möchte man ihnen da antworten? Es gibt doch das Reeperbahn Festival!

Nach durchgetanzter Nacht im Verbund mit der offiziellen After Show-Party bleibt man müde und ausgelaugt, aber mit vielen positiven Gedanken und Erlebnissen im Gepäck zurück. Tradition trifft Moderne - und wenn sich das so harmonisch, kreativ und erfüllt von purer Lust an Leben und Kultur präsentiert wie beim Reeperbahn Festival, freue ich mich schon heute auf die letzten Septembertage des kommenden Jahres. Und der Geist der Beatles-Tage weht noch immer um das Herz von St. Pauli.

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