laut.de-Kritik

Dem Post-Hardcore endlich entwachsen.

Review von

Fast jeder kennt sie: Kreuze am Straßenrand, die anzeigen, dass hier jemand tödlich verunglückte. Jordan Dreyer, Sänger der amerikanischen Post-Hardcoreler La Dispute, wählte sie als Dreh- und Angelpunkt für das vierte Album seiner Band. Rund um die Denkmäler, die er auf dem Weg von seiner Heimat Grand Rapids nach Lowell, wo seine Freundin aufwuchs, sieht, entfalten er und seine Mitmusiker auf "Panorama" ein musikalisches Poesiealbum zwischen Realität, Fiktion und persönlichem Empfinden.

Wie Dreyers Überlegungen entstanden sind, fasst "Fulton Street I" recht gut zusammen. "All the crosses for the accidents / All the photos and the flowers by the street", murmelt er relativ früh im Stück, und ruft das Bild später immer wieder in Erinnerung: "Will I ever put flowers by the street?" – "Could I go and leave flowers by the street?" – und mehrfach: "I've never put flowers by the street."

Dreyer setzt den Hörer quasi auf den Beifahrersitz seines Autos, fährt immer wieder die Strecke ab, holt immer wieder die Kreuze vor Augen, bis man sie nicht mehr ignorieren kann und anfänglich neutrale Beobachtung persönlichen Gedanken dazu weicht. Genauso wie er selbst wird schließlich auch der Zuhörer gezwungen, über die Bedeutung nachzudenken, die die Denkmäler - oder Dreyers Worte - vielleicht für einen selbst haben könnten.

Meisterhaft versteht es der Lyriker und Vokalist, Bilder in den Kopf seines Publikums zu projizieren und ausgehend davon abstrakte Metaphern zu weben. Das Album beginnt mit dem Fund einer Leiche im Unterholz an einer Raststätte. Während Dreyer beschreibt, wie Arbeiter sie aus dem Wald befreien, schwenkt er von diesem Einzelfall um in größeren Maßstab und sinniert darüber, wie viele andere Geheimnisse wohl noch "in the trees / In the shadow of a pyramid" verborgen sind. Denn: "All cities grow weeds."

Der Albumtitel ist gut gewählt, ergeben die verschiedenen Geschichten doch tatsächlich eine Art Panorama des Straßenzuges – gewissermaßen inklusive einer weiteren, tieferen Ebene für das Bewusstsein eines jeden Hörers. Musik und Vocals bilden dabei einen gemeinsamen Strom, der unvorhersehbar, aber immer im Einklang der beiden Elemente auf und ab fließt. Dreyer agiert ähnlich wie ein guter Rapper, singt im Grunde nie, spielt statt mit Tonhöhen eher mit Dynamik und fängt auch so unzählige Emotionen ein.

Durch das fehlen echter Hooks werden die Songs sperrig, zwingen zum Zuhören und Eintauchen. Die Spannung hält Dreyer hoch, indem er kontinuierlich Facetten wandelt, etwa durch extreme Lautstärkeschwankungen oder dem Aggressionspegel seiner Stimme. Und wenn er in seinen Essays pausiert, erblühen instrumentale Ornamente – Trompetenfiguren in "Rhodonite And Grief", sehnsüchtige Gitarrenmelodien in "Views From Our Bedroom Window", zarte Percussion in "You Ascendant", ein Post-Rock-Klimax in "Fulton Street II" mit starkem Bass und Noise-Synthesizern. Das ganze Gebilde erinnert in seiner Textlastigkeit, aber dennoch wundervoll detailverliebter Instrumentalität und Komposition an Nordic Giants.

Und "Panorama" ist eben genau das: 'das ganze Gebilde' – ein Gesamtkunstwerk. Die Stücke gehen ineinander über, die Texte verbindet ein gemeinsames Motiv. Obwohl La Dispute ein irrsinniges Spektrum an Stilen durchlaufen – von vertrauten Post-Hardcore-Ausbrüchen ("Anxiety Panorama") über Indie-Punk ("Footsteps At The Pond"), Alternative Rock ("There You Are (Hiding Place)" und Dream Pop ("Fulton Street I") bis hin zu Jazz ("Rhodonite And Grief"), Singer/Songwriter ("You Ascendant") und Ambient ("In Northern Michigan") –, hat man nie das Gefühl, sie würden übermäßiges Genrehopping betreiben. Alles gehört irgendwie zusammen, baut aufeinander auf, ergänzt und wirkt wie aus einem Guss.

Schon mit ihren vorangegangenen Alben stachen La Dispute aus dem Post Hardcore-Feld heraus. Nun sind sie seinen Grenzen entwachsen. Indem sie mehr Einflüsse denn je integrieren und durch eine insgesamt sanftere Ausrichtung schärfer Akzente setzen, verfeinern sie ihren Ausdruck sogar noch – und das ganz entscheidend nicht nur mit den oberflächlich dominierenden Texten, sondern auch musikalisch.

Angst, Trauer sowie ein wenig unterschwellige Wut geben zwar den Rahmen vor und sorgen punktuell für intensive Gänsehautmomente. Spätestens jedoch wenn "You Ascendant" mit spartanischer, leiser Akustikpercussion ausklingt, überwiegt Zuversicht. Wohl auch einfach deshalb, weil La Dispute mit "Panorama" nahe der Perfektion wandeln und ihr bisheriges Opus Magnum abliefern.

Trackliste

  1. 1. Rose Quartz
  2. 2. Fulton Street I
  3. 3. Fulton Street II
  4. 4. Rhodonite And Grief
  5. 5. Anxiety Panorama
  6. 6. In Northern Michigan
  7. 7. View From Our Bedroom Window
  8. 8. Footsteps At The Pond
  9. 9. There You Are (Hiding Place)
  10. 10. You Ascendant

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5 Kommentare

  • Vor 5 Jahren

    Ganz tolles Album. Fühle mich wieder wie ein von der Welt missverstandener Fünfzehnjähriger, wenn ich das anhöre

  • Vor 5 Jahren

    Echt unglaublich gute Band und richtig gutes Album. Die Texte von Dreyer nehmen einen einfach mit. Höre das Album und ihre Werke seit ner Woche rauf und runter. Kriege nicht genug davon. Authentizität .. Emotion .. lange her, dass mich eine Band so richtig angesprochen hat.

  • Vor 5 Jahren

    Die Stimmung, die diese Band rüberbringt, Dreyer‘s unglaubliche Stimme, ich kann gar nicht aufhören, sie zu hören. Tolles Album und tolle Review.

  • Vor 5 Jahren

    Egal in welcher Richtung sich diese Band bewegt, sie machen absolut keine Fehler. Man umschiffen schon ein Weilchen elegant den plumpen Hardcore Sektor, durch schlauen Lautstärke- und Tempomix. Den Mittelpunkt der prächtig aufgelegten Band spielt Jordan Dreyer mit seinen hypnotisierend vorgetragenen Lyrics. Ohne Zweifel ist La Dispute eine Band welche seine Zuhörer auf Albumlänge fesseln möchte. Kaum einer Band gelingt diese äußerst schwierige Herausforderung aktuell so gut wie Ihnen. Wellen jeglicher Arten von Emotionen lassen den Zuhörer abtauchen in die Welt von Panorama bis zur letzten Note. 10/10 starker "Album des Jahres" Kandidat