laut.de-Kritik
Die perfekte Symbiose aus hart und weich.
Review von Kai ButterweckAls Life Of Agony im Herbst 1993 ihr Debütalbum "River Runs Red" veröffentlichten, ging ein Aufschrei durch die internationale Hardcore-Szene. Erstmals mixte eine Band des elitären Stiernacken-Genres knüppelharte Power-Riffs mit schwermütiger Melancholie und eingängigen Harmonien. Auch meine Wenigkeit hüpfte seinerzeit vor Freude im Dreieck, völlig geplättet von aufwühlenden Kraftpaketen wie "This Time", "Through And Through" und "Method Of Groove". Hätte ich damals gewusst, dass dieses Album nur der Appetizer für ein 20 Monate später folgendes Hauptmenü sein sollte, wäre ich wenigsten vorbereitet gewesen. Vorbereitet auf einen Tag, dessen Soundtrack mich emotional fast aus der Bahn werfen sollte.
Ich stand schon seit jeher auf einen ausgewogenen Mix aus Härte und Melodie. "Fade To Black" und "Orion" liefen bei mir Zuhause wesentlich öfter auf Rotation als "Battery" oder "Fight Fire With Fire". Es war ein kalter Novembertag des Jahres 1995, an dem meine jahrelange Suche nach der perfektionierten Symbiose zwischen hart und weich ein vorläufiges Ende finden sollte. Es war der Tag an dem das zweite LOA-Album "Ugly" erschien.
Als wäre es erst gestern gewesen, erinnere ich mich an den Moment, als ich die CD in den Player einlegte und die nächsten zwei Minuten die Wände hätte hochgehen können. Die Anlage zickte rum und wollte das Album nicht mit der ersten Nummer beginnen. Permanent sprang das Display auf Track fünf, was mich zur Weißglut brachte. Irgendwann gab ich mich geschlagen und ließ die Dinge laufen. Statt dem eigentlich eröffnenden "Seasons", verteilte sich das Gitarren-Intro von "Let's Pretend" in meiner Wohnung. Vier Minuten später drückte ich auf Repeat, während mir bereits die ersten Tränen die Wangen runter kullerten.
Hatte ich so etwas Ergreifendes vorher schon mal gehört? Nein. Auch der zweite Durchlauf endete mit dem Drücken der Repeat-Taste. Genauso wie der dritte, der vierte und der fünfte. Ich war wie gefangen in einer Welt aus Kummer, Wut und Schmerz. Lag es an der ergreifenden Trauerbewältigung von Sänger Keith Caputo, der den frühen Verlust seiner Mutter mit berührenden Worten verarbeitete? Oder war es der schleppende Groove und die sich in meine Gehörgänge einnistenden Gitarren, die mich für die Dauer einer guten halben Stunde erstarren ließen? Keine Ahnung. Fakt ist aber: Kein Song zuvor löste derart überschäumende Emotionen in mir aus, wie eben jener vierminütige Mix aus hart und zart. Noch heute lasse ich alles stehen und liegen, wenn von irgendwo her die Worte "In the stillness oft he night, my eyes are closed, my mouth is wide" in meine Ohren dringen.
Nicht anders geht es mir bei Songs wie dem ebenfalls Keiths Mutter gewidmetem "How It Would Be", dem walzenden Todes-Drama "Other Side Of The River" oder dem Achterbahn-Feuerwerk namens "Ugly", nicht nur Titeltrack des Albums, sondern auch Eckpfeiler in punkto Dynamik, Energie und Facettenreichtum. Gerade hier zeigt sich, wie perfekt es die Band auf dem Zenit ihres Schaffens versteht, treibende Hardcore-Elemente mit hochgradig ansteckenden Melodien zu vereinen, sodass sowohl Freunde berstender Brooklyn-Klänge als auch Liebhaber pathosgeschwängerter Alternative-Sounds nicht mehr stillsitzen können.
Alan Roberts Gespür für langlebige Songwriting-Strukturen, Sal Abruscatos pumpendes Schlagzeugspiel sowie die über allem thronende Stimme des kleinen HC-Kermits Keith Caputo schieben auch den Rest des Albums mühelos an ähnlich gestrickten Produktionen vorbei. Zwar verfügt mit Ausnahme des Simple Minds-Covers "Don't You" und der aufwühlenden akustischen Neuinterpretation des Bob Marley-Klassikers "Redemption Song" kein weiteres Lied mehr über diesen Vibe der Unsterblichkeit à la "Let's Pretend" oder "How It Would Be", dennoch stecken teils psychedelisch angehauchte Art-Rock-Perlen wie "Lost At 22" und "Unstable" das Gros an Vergleichbarem außerhalb des LOA-Headquarters problemlos in die Tasche.
Spätestens mit ihrem zweiten Album legten Life Of Agony zwei Jahre nach ihrem bereits wegweisenden Debüt den Grundstein für zahlreiche Trittbrettfahrer. Jedoch vermochte keine Band dieses Planeten in der Folge auch nur ansatzweise mit den New Yorkern gleichzuziehen – von einem ebenbürtigen Album ganz zu schweigen.
Im Übrigen ließ mich meine Anlage vor zwanzig Jahren fast eine ganze Stunde im Stich. Erst dann gewährte sie mir Höreindrücke aller anderen Songs. Störte mich aber nicht weiter. Ich war schließlich eine "Let's Pretend"-Geisel. Die bin ich auch heute noch. "In the stillness oft he night…"
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
7 Kommentare mit 5 Antworten
River Runs Red ist noch immer eines meiner Lieblingsalben im Bereich der harten Musik. Ugly werde ich mir wohl dann mal zulegen müssen, wenn es wirklich noch besser ist.
Dieser Kommentar wurde vor 9 Jahren durch den Autor entfernt.
Sage mir was du hörst und ich sage dir wer du bist. Bravo, eine echt ernst gemeinte Gratulation zu deinem besten Stück Kritik was du jemals abgeliefert hast. Verständlich, hoch emotional, es packt einem beim Lesen und man will es selbst fühlen/nachempfinden, du machst einen neugierig auf das Album. Danke Kai! Könnte man übrigens prima weiter spinnen, welcher Song war der „ Ear- Catcher“ für euch? Bei mir war es „Fat Bottomed Girls“ vom Queen Album Jazz. Vom MS ist „Ugly“ persönlich mein Favorit. Ein Monster von Song besiegt in 5:47 sämtliche eigene Monster in einem und lässt sie für min. einen halben Tag auch nicht wieder aufstehen.
Als hättest beim "Schreibguru" Rick Rubin eine Sonderschicht eingelegt. Ach quatsch schlage mich gerade selber, sei nett Speedi.
Gruß Speedi
P.S.: Macht das Board wieder auf! Riesendemoplakat aufzieh. BRAUCHE das Edit, verdammte Scheiße.........
Oooha...
Uhhh, das ist ein sehr sehr gutes Album, was leider nahezu in der Versenkung verschwunden ist. Ich habe es früher auch sehr gerne gehört. Danke für das Hervorkramen und Rezensieren!
Ich hab es mir grad aufgelegt, weil ich dachte ich hab es damals verkannt... River Runs Red ist einfach das bessere Album.
Darum geht es dem Kai doch gar nicht und er soll mich ruhig verbessern. Es war und ist sein persönlicher Meilenstein. Was ich völlig nachvollziehbar finde. Man sollte aber auch wirklich mal es mit Lesen versuchen, dann versteht man das auch. Eine Kategorie "Welches Album einer Band ist das Beste in ihrer Diskographie?" haben sie bei Laut noch nicht.
Die Weißheit gab es wohl mit dem großen Löffel...
...der war so groß, kannst was von abhaben.
Ich muss Subtrendence beipflichten: River Runs Red ist auf einem ganz anderen Niveau. Verständlich, wenn Redakteure in der Kategorie "Meine Meilensteine" ihre Lieblingsalben wählen, aber bei "Meilensteine" finde ich schon, dass der gesamte Kontext entscheidend ist - welches Album von LoA hat sich über die Jahre hinweg bei der Mehrzahl der Kritiker, Fans usw. festgesetzt -, womit River bei weitem das beste Album der Band ist. Da ist es ein wenig komisch, wenn ein einziger Kritiker dann in der Meilenstein Kategorie Lou Reeds Metal Machine Music preisen würde. Aber gut, die Hintergrundgeschichte ist interessant, wie bei der Korn Rezension.