laut.de-Kritik

Die Befreiung der Manics nach der verlorenen Zeit.

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Mit einem wütenden Ausruf, begleitet von einem harten stoischen Gitarren-Riff, beginnt "Kevin Carter": "Hi Time Magazine! Hi Pulitzer Prize!" Der dritte Song auf "Everything Must Go" erzählt die tragische Geschichte des Fotografen, der für das Foto eines fast verhungernden Kindes den Pulitzer-Preis gewann. Die Schuldgefühle und die Vorwürfe, dass er zwar ein spektakuläres Foto schoss, aber vor Ort keine humanitäre Hilfe anbot, nagten schwer an seinem Gewissen. Kevin Carter begeht am 27. Juli 1994 Selbstmord. In seinem Abschiedsbrief steht: "Der Schmerz des Lebens übersteigt die Freude in einem Maße, dass keine Freude mehr existiert". Die Trompete im Mittelteil des Songs ertönt wie die Abschieds-Melodie in einer Begräbnis-Zeremonie.

Die Manic Street Preachers stehen kurz vor einer US-Tour, als sie vom Verschwinden ihres charismatischen Gitarristen Richey Edwards erfahren. Am 14. Februar 1995 wird sein Auto gefunden, ansonsten gibt es bis zum heutigen Tage keine Beweise für seinen Tod. Seine Familie gab die Hoffnung 2008 endgültig auf, seitdem steht im Polizeibericht der Status "vermutlich tot".

Klar ist jedenfalls, dass die aufstrebende Band aus Wales plötzlich ohne ihren wichtigen Songwriter auskommen muss, oder wie es in dem selbstbetitelten Album-Track heißt: "And I just hope that you can forgive us / But everything must go". Doch schon vor dem schmerzlichen Verlust - bereits nach dem eher rauen Album "The Holy Bible" - waren die Meinungen über die Zukunft der Band auseinander gegangen. Richey wollte den nihilistischen Schmerz des Albums beibehalten, während der Rest sich wieder eine offenere Musikausrichtung wünschte. Nun, nach Richeys Verschwinden, ist nicht mal mehr klar, ob es für die Band überhaupt noch weiter geht. Es vergehen Monate in der Hoffnung, dass sich wider Erwarten noch alles zum Guten wendet und der begnadete Songwriter, der unter Depression und Angstzuständen litt, sich vielleicht wieder meldet.

Nach dem dritten Monat gehen sie mit der Überlegung "Schauen wir, ob wir als Freunde und ohne Richey wieder eine Dynamik erschaffen können" zum ersten Mal wieder gemeinsam ins Studio. Nicky Wire, der sich jetzt um die Lyrics kümmert, schreibt ein Gedicht namens "A Design For Life". Die Manics kontaktieren Mike Hedges, der bereits in den 80ern The Cure produzierte, und spielen ihm den fertigen Song vor. Er ist begeistert und sagt zu der Band: "Das ist euer Hit! Er funktioniert einfach jederzeit" und übernimmt die Produktion von "Everything Must Go". Der Song ist Balsam für die Seele der Manics, die nun wissen, dass sie auch ohne Edwards Großes erschaffen können. The Venomettes, eine vierköpfige Studioband, wird hinzu gerufen.

"A Design For Life" ist ein zwar ein typischer Britpop-Song mit viel Bombast und dem Streicher-Einsatz der Venomettes, aber auch eine wütende Working-Class-Kampfsansage an die Upper Class Großbritanniens. Sänger James Dean Bradfield zischt wütend ins Mikrofon: "I wish I had a bottle / Right here in my dirty face to wear the scars / To show from where I came.". Aber er appelliert auch an die Macht der Bildung, die jedem Freiheit verschafft ("Libraries gave us power"), aber von der herrschenden Klasse in ihre Schranken verwiesen wird. "Then work came and made us free / What price now for a shallow piece of dignity".

Der Einstieg in das Album verläuft sanfter. Wellengeräusche und ein verzerrter Voice- und Gitarrensound sind anfangs zu hören, erst später setzt zusammen mit Harfen-Klängen die Stimme von Bradfield ein. "Elvis Impersonator: Blackpool Pier" beschreibt die absurde Situation, eine Elvis-Presley-Statue als Symbol des amerikanisches Lifestyles so übermächtig in einer zutiefst englischen Stadt zu sehen. "Overweight and out of date / 20ft. high on blackpool promenade." Wie so häufig in den Manics-Lyrics dreht es sich um eine tragische Person, die am Schluss trotz Ruhm und Erfolg scheitert.

Auch andere Songs nehmen immer wieder Bezug auf düstere Themen, wie zum Beispiel in "The Girl Who Wanted To Be God". Er ist der amerikanischen Dichterin Sylvia Plath gewidmet, die erst nach ihrem Tod für ihr Schaffen gewürdigt wurde. Eine traurig-schöne Verbindung zu Richey Edwards, der vor seinem Verschwinden noch die Lyrics schrieb. Auch wenn Edwards musikalische DNA in dem Song nicht zu leugnen ist, klingt er nicht nach dem rauen, reduzierten Sound von "The Holy Bible". Die Schwere aus dieser Zeit ist verschwunden und die verspielten Gitarren dominieren. Im Outro erhellen Geigen diesen majestätischen Moment voller Glück.

Das Album "Everything Must Go" wird ein Mega-Seller mit 16 Millionen Einheiten und mehreren Erfolgen in den UK-Singles-Charts. Die verbliebenen Bandmitglieder, die den Star-Rummel noch Jahre vorher zynisch auf "You Love Us" beschrieben hatten, sind plötzlich selber gefeierte Musiker. "Wir trafen in einer Minute Fidel Castro und standen dann im nächsten Moment mit Kylie Minogue auf einer Bühne", erinnert sich Nicky Wire später.

Das Heimatland der kleinen Pop-Sängerin ist von dem Lied "Australia" so dermaßen angetan, dass das australische Fremdenverkehrsbüro eine Anfrage stellt, ob man es als Werbung verwenden dürfe. Die Nummer, die so ungestüm nach Oasis und Optimismus klingt, wäre sicherlich eine nette Untermalung für schöne Bilder mit Kängurus und Outback-Landschaft geworden.

Wie bei jedem Song auf "Everything Must Go" steht hinter Zeilen wie "Sleep for a while and speak no words in Australia." eine tiefere Bedeutung. "Australia" steht für den Wunschtraum, dass sich Richey Edwards doch irgendwo da draußen seine Ruhe findet. "Ich schaute immer wieder bei Konzerten nach rechts, auf die leere Stelle neben mir und fragte mich, wie Richey diesen plötzlichen Erfolg finden würde", sagt Nicky Wire später.

Edwards hätte es sicherlich gut gefunden, wie seine Band für einen Moment der englischen Popmusik ihr soziales Gewissen wieder zurück gab und das auf MTV oftmals gespielte Musikvideo zu "A Design For Life" Szenen von Straßenkämpfen als Kontrast zu bunten Dance-Pop-Videos zeigte. "Everything Must Go" enthält großartige schwelgerische Britpop-Hymnen für die Charts, zwischen großen Gesten und Punk-Wut. Es ist ein Manifest für das Überleben, ein Appell an die Standhaftigkeit und ein Kampf gegen alle widrigen Umstände, die einen mitunter hoffnungslos werden lassen. Die Dunkelheit darf niemals siegen!

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Elvis Impersonator: Blackpool Pier
  2. 2. A Design For Life
  3. 3. Kevin Carter
  4. 4. Enola/Alone
  5. 5. Everything Must Go
  6. 6. Small Black Flowers That Grow In The Sky
  7. 7. The Girl Who Wanted To Be God
  8. 8. Removables
  9. 9. Australia
  10. 10. Interiors (Song For Willem De Kooning)
  11. 11. Further Away
  12. 12. No Surface All Feeling

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5 Kommentare mit 12 Antworten

  • Vor 5 Jahren

    Edwards war nich der Sänger, sondern Texter und Rythmus Gitarrist. Aber ein verdienter Meilenstein

  • Vor 5 Jahren

    Der Text bzgl. Edwards ist leider immer noch falsch. Edwards war "nur" Texter und bei Live-Auftritten Rhythmusgitarrist. Er war nie Songwriter der Band. Das waren (und sind) hauptsächlich Bradfield und Moore.

    Ansonsten gut gewählter Meilenstein, wobei der Vorgänger "The Holy Bible" immer noch ihr bestes Album ist.

    • Vor 5 Jahren

      War da Mertesacker...äh Motorcycle Emptiness drauf?

    • Vor 5 Jahren

      Hehe, nein. Das Lied war auf dem ersten Album "Generation Terrorists".

    • Vor 5 Jahren

      "wobei der Vorgänger "The Holy Bible" immer noch ihr bestes Album ist."

      Jo, ein düsterer, morbider Meilenstein des 90s-Alt-Rocks. Die persönlichen Texte von RJE, die rohe Produktion und der Gesang von JDB. Natürlich alles noch eindringlicher, wenn man sich die gesundheitliche Situation und das Verschwinden von Edwards ins Gedächtnis ruft. Perfekt dafür geeignet, sich im eigenen depressiven Selbst- und Welthass zu suhlen.

      Hätte es hier lieber als EMG gesehen, wobei ich den großen Hymnen und den poppigen Manics auch einiges abgewinnen kann.

  • Vor 5 Jahren

    tja, ich weiß nicht. die haben ja viele gute platten gemacht. aber der echte msp-spirit, der derbe rock-glamour war doch die grandios inszenierte anfangsphase mit "generation terrorists". die platte mit dem übersong "motorcycle emptiness" und der extern nachgeschobenen mash-single "suicide is painless".

    das sind doch die sachen, an die man sich weltweit erinnert; zumal dort noch alle im boot waren.

    • Vor 5 Jahren

      Dieser Kommentar wurde vor 5 Jahren durch den Autor entfernt.

    • Vor 5 Jahren

      Wenn es darum geht, welches Album von MSP am (weltweit) bekanntesten ist, dürfte der Nacholger (von Everything Must Go) "This is my truth, tell me yours" die beste Wahl sein. Zumindest dürfte das deutlich bekannter als Generation Terrorists sein, welches (über)ambitioniert war.

      Von Ausnahmen (Motorcycle Emptiness) abgesehen, hat man bei Generation Terrorists teils noch Limitierungen im Songwriting gemerkt.

    • Vor 5 Jahren

      klar,emptiness ist DIE ewige Hymne.Aber den Stein finde ich sehr verdient.
      Wobei ich anmerken möchte,dass sie live SEHR schrill rüberkamen.Lag aber vielleicht an der Batschkapp.

  • Vor 5 Jahren

    Dieser Kommentar wurde vor 5 Jahren durch den Autor entfernt.

  • Vor 5 Jahren

    Nach dem 3. 7. 1969 haben die Stones keine Stein würdige Musik mehr gemacht? So einen Quark würde jeder sagen, danach ging es doch erst richtig los. 2 Jahre später entstand der erste Stein „Sticky Fingers“.

    MSP hat mit Richey James Edwards vermutlich ihren Gitarristen verloren, am 1. 2. 1995. Seitdem haben sie 4/5 ihrer Platten veröffentlicht und da soll nichts Stein würdiges drunter sein? Parallelen zu den Stones, kann man ziehen, muss man aber auch nicht.

    Deshalb die Wahl von „Everything Must Go“, ist nicht nur exzellent sondern genau richtig. Danach ging es doch erst richtig los. 2009 war dann die Würdigung „Journal for Plague Lovers“ für Richey auch noch am Start, das muss es dann aber auch gewesen sein mit Nostalgiekino.

    Gruß Speedi

    • Vor 5 Jahren

      "Nach dem 3. 7. 1969 haben die Stones keine Stein würdige Musik mehr gemacht? So einen Quark würde jeder sagen, danach ging es doch erst richtig los. 2 Jahre später entstand der erste Stein „Sticky Fingers“."

      Nichts hinkt so wie Deine schwarz/weiß Argumentation...

    • Vor 5 Jahren

      Aha, im Beinchen stellen kennt sich der DocGutmann also tatsächlich aus. Interessant!