laut.de-Kritik
Dieses Gänsehaut-Falsett schillert alles andere als grau.
Review von Florian DükerMoses Sumney verlangt von den Hörern mehr als einzeilige, simple Bewertungen seiner Musik: "Wenn du denkst, die Musik ist schön und du hast sie genossen, dann hast du sie nur überflogen. Hör's dir lieber noch ein paar Mal an". Diesen Rat gab er Fans nach Veröffentlichung des ersten Teils seines neuen Doppelalbums "græ", der bereits im Februar erschienen war.
Sowas wirkt leicht überheblich, unsympathisch, vielleicht sogar anmaßend. Doch Sumney erweckt überhaupt nicht den Eindruck, als wolle er von allen gemocht werden. Jemand der "R Kelly next please" tweetet, nachdem die Nachricht vom Tod des Rappers XXXTentacion um die Welt geht, schert sich wohl nicht besonders um politische Korrektheit und Empathie.
Die Genre-Einteilung ist auch bei Moses Sumneys zweiten Album mal wieder mit Vorsicht zu genießen. R'n'B? Nicht wirklich. Pop? Höchstens im Ansatz. Soul? Schon, geht mit dieser Stimme ja auch gar nicht anders. Folk? Ein wenig, zum Beispiel auf "Neither/Nor" oder "Polly". Jazz? Nur auf "Gagarin". Moses selbst hatte sein zweites Werk Ende 2018 als "gospel album" angekündigt. Das ist "græ" auf den ersten Blick überhaupt nicht, aber hört man genauer hin, dann lassen sich tatsächlich einige Gospel-Elemente finden, zum Beispiel auf dem Opener "Cut Me".
Das Schubladendenken hat den Künstler, der zunächst in Kalifornien und später in Ghana aufgewachsen ist, auch bei der Arbeit an "græ" beschäftigt. Auf dem Interlude "boxes" lassen verzerrte Stimmen "We are constructing a whole new edifice of boxes to put people in" und "Very concerned about giving names (giving names)" verlauten. "also also also and and and" beinhaltet Zitate der Schriftstellerin Taiye Selasi: "I insist upon my right to be multiple. I insist upon my right to be multiple – even more so, I insist upon the recognition of my multiplicity", sagt sie, untermalt von dramatischer, fernöstlich klingender Musik.
Trotz der Menge an Genres und der Vielzahl an Tracks klingt das Doppelalbum aber nicht wie ein zusammengewürfeltes Durcheinander. Es führt vielmehr dazu, dass unter den 20 Stücken auf "græ" wirklich für fast jeden etwas dabei sein sollte - es sei denn, man steht auf konventionelle Song-Strukturen und erwartbare Akkord-Folgen. Die findet man in Sumneys Musik äußerst selten.
Als roter Faden zieht sich das Konzept der Isolation durch "græ". Mit der immer noch anhaltenden Corona-Krise hat das aber wenig zu tun, den kompletten Shutdown der Weltwirtschaft inmitten seiner Doppelalbum-Veröffentlichung hat auch Sumney nicht geahnt. Stattdessen nähert er sich dem Thema etymologisch: "Isolation comes from “insula” which means island" lauten die ersten Worte, die man auf dem Album hört. Das erlaubt gleich viel mehr Interpretationsspielraum und verleiht dem Wort "Isolation" eine andere, positivere Konnotation.
Bei der Produktion des Doppelalbums war Sumney übrigens keineswegs isoliert oder abgeschottet. Daniel Lopatin half auf zahlreichen Tracks mit Synths aus, Thundercat spielte auf vier Stücken Bass und Rob Moose arrangierte die Streicher. Multiinstrumentalist Moses Sumney ließ es sich aber nicht nehmen, auf mehreren Tracks das Klavier, die Gitarre, das Keyboard, den Bass, das Schlagzeug, den Synthesizer, die Flöte und das Saxophon zu übernehmen. Bei seinen Konzerten traut er sich dagegen meist 'nur' die Gitarre oder das Klavier zu.
Vom kunstvollen Album-Cover über die vielschichtigen Texte bis hin zur auf zahlreichen verschiedenen Instrumenten basierenden Produktion sticht "græ" mit aller Macht aus dem teilweise anspruchslosen Mainstream hervor. Sumney fordert den Hörer, trotzdem (oder deswegen?) macht seine Musik Spaß.
Auf beiden Teilen des Doppelalbums finden sich Stücke, die sich besonders abheben. "Polly" zählt zu diesen Höhepunkten und für mich sogar zu den schönsten Songs, die ein Künstler in den letzten Monaten zu Papier gebracht hat. "Bystanders", das Assoziationen mit dem eindringlichen "Doomed" vom letzten Album erweckt, sorgt aufgrund Sumneys beeindruckender gesanglichen Leistung und der epischen Produktion für Gänsehaut. Mit dem darauf folgenden "Me In 20 Years" bildet der Start des zweiten Teils wohl die stärksten acht Minuten des Doppelalbums.
Moses Sumney ist ein extrem versierter Sänger und das ist wohl das überzeugendste Argument für "græ", denn seine herausragenden gesanglichen Fähigkeiten stellt er über die gesamten 66 Minuten unter Beweis. Vor allem sein Falsett-Gesang kommt immer wieder zum Einsatz. Kein Wunder, dass Musiker wie Sufjan Stevens oder James Blake längst auf ihn aufmerksam geworden sind.
Letzterer nahm ihn sogar als Voract mit auf Tour und steuerte für das neue Album die Keyboard-Untermalung auf "Lucky Me" bei. Blake am Keyboard und Sumney am Mikro ist eine äußerst gelungene Kombination, das beweist "Lucky Me", aber wünschenswert wäre auch ein Duett, auf dem beide gemeinsam singen. Vielleicht erfüllt Sumney den Fans diesen Wunsch ja auf dem nächsten Album. Ansonsten braucht er überhaupt nicht viel verändern. "græ" ist ein - als Doppelalbum etwas lang geratenes - sehr gelungenes Zweitwerk eines Künstlers, dem aufgrund seiner Stimme und seinem spielend leichten Wechsel zwischen den Genres alle Türen offen stehen.
1 Kommentar mit einer Antwort
Sein Aromanticism Album fand ich vielversprechend, wenn auch teils recht anstrengend. Aber das neuere Zeug hört sich im ersten Eindruck homogener und fokussierter an. Guter Mann.
Kann ich zustimmen. Aromanticism ist ein klassisches mood Album. Die erste Haelfte seines neuen Albums ist deutlich expermentierfreudiger, waehrend die zweite Haelfte an Aromanticm anknuepft. Ihn sollte man auch in Zukunft im Auge behalten.