laut.de-Kritik
Spätes Manifest der LoFi-Generation.
Review von Hannes WesselkämperEs endet, wie es beginnt: Mit der vollmundig angeschlagenen, dumpf abgemischten Akustikgitarre und den wirren Texten von Bandleader Jeff Mangum. Dazwischen erstreckt sich ein knapp 40-minütiges, in vieler Hinsicht ikonisches Indiefolk-Machwerk der späten Neunzigerjahre. Einerseits kann "In The Aeroplane Over The Sea", das zweite und letzte Album von Neutral Milk Hotel, als Manifest einer Bewegung angesehen werden, die sich zum Wohle fantasievoller Lyrics und innovativer Musik stets aus dem großen Pop-Zirkus raushielt. Andererseits facht es eine Mythenbildung an, die, wie kaum eine Platte dieser Zeit, auch viele Jahre später noch nachhallt.
1997, als eine junge deutsche Musikplattform namens laut.de noch das Hirngespinst einiger Musiknerds am Bodensee ist, formieren sich Neutral Milk Hotel im legendären Pet Sounds Studio von Apples In Stereo-Chef Robert Schneider, um ihren zweiten Langspieler aufzunehmen. Bereits ein Jahr später trennt sich die von der enormen Reichweite ihrer eigenen Songs schockierte Band. Besonders Mastermind Jeff Mangum verunsichert das Echo seiner assoziativen persönlichen Songs, die selbst dessen religiöser Vater stolz an Verwandte verteilt.
Mangum tritt nur noch sporadisch auf, während sich "In The Aeroplane Over The Sea" über die Jahre immer mehr zum späten Manifest des LoFi-Kollektivs Elephant 6 aus Denver entwickelt. Der freigeistige Folkrock der Label-Kollegen von Elf Power, Beulah oder Of Montreal gerät zunehmend in den Hintergrund, weshalb der introvertierte Mangum die Reißleine zieht.
Natürlich potenziert ein solch radikaler Schritt den Mythos des Albums erst: "In The Aeroplane Over The Sea" verkauft sich in der Neuauflage zum zehnten Jubiläum wie kaum eine andere Vinylplatte in den USA, erntet noch einmal weitaus begeistertere Kritiken als bei der Veröffentlichung und entwickelt sich gar zu einem eigenen Internet-Mem.
Im Zentrum des Albums steht Jeff Mangums Beschäftigung mit dem Tagebuch Anne Franks, das er in zwei Tagen gelesen haben soll.
Die Geschichte des 13-jährigen Mädchens verfolgt ihn im Schlaf und spiegelt sich in mehreren Songs des Albums wider. Sie erzählen von schwärmerischer Verehrung, tiefer Trauer oder utopischen Zeitreise-Fantasien. So ist besonders "Holland, 1945" eine herzzerreißende Hommage an die Leiden der Zwangsexilantin.
Eine stark verzerrte Gitarre und schneller Rhythmus untermalen Mangums eigenwillig-nölendes Organ, während eine feierliche Trompete so gar nicht nach Trauerzeremonie klingen möchte. In ebenso untypischer Manier mischen sich Beschreibungen des Todes der Familie Frank im KZ mit obskuren Wiedergeburtsszenarien. Ähnlich der mexikanischen Totentraditionen werden die Franks hier gefeiert und doch zutiefst melancholisch geehrt, wie sich in den letzten Zeilen zeigt, in denen es heißt: "And it's so sad to see the world agree / That they'd rather see their faces fill with flies / All when I'd want to keep white roses in their eyes."
"Ghost" fungiert als zweiter Teil des Songpaares, das sich explizit mit diesem Schicksal beschäftigt. Der Track ist ähnlich freudig instrumentiert, erzählt aber eine andere Version der Geschichte. Anne Frank verkörpert hier ein alternatives Jesuskind, das aus Weihwasser und Milch in einer Silvesterrakete geboren wird. Schließlich findet sie als kleines Baby in New York wieder ins Leben, während ihr eine singende Säge und ein Midi-Keyboard in langem Nachhall huldigen.
Neutral Milk Hotel bleiben dabei jedoch frei von Hippie-Getue und Folk-Gutmenschentum. Sie erschaffen auf ihrem Höhepunkt textlich wie instrumentell unheimlich diverse Songlandschaften. So stellt sich religiöse Andacht in "King Of Carrot Flowers Pts. Two and Three" neben wilden Fuzz-Folk, während "Untitled" einen stolzen Dudelsack nach und nach in stark verzerrte Zirkusmusik übergleiten lässt.
Basis für die Genialität des Albums bleiben jedoch die Zeilen des Sonderlings Mangum und seine scheppernde Akustikgitarre. "Oh Comely" bietet dieser Konstellation in über acht Minuten viel Raum. Diesen füllt er mit der breiten Klaviatur seiner Stimme, die von galliger Aggression bis zu genervtem Ennui reicht. Gegen Ende verfällt Mangum doch wieder ins melancholische Schwärmen, wenn er sich fragt, ob die kleine Anne nicht mit einer Zeitmaschine gerettet werden könnte. Dazu gesellen sich schiefe Bläser, die den letzten zwei Minuten des Stücks und schließlich dem ganzen Album die emotionale Krone aufsetzen.
So ist nicht direkt nachvollziehbar, aber doch verständlich, dass sich die Band aus Angst, das Geschaffene zu schmälern, Ende 1998 auflöst. Seit 2013 spielen Neutral Milk Hotel jedoch wieder Konzerte in einer ausufernden Welttournee. Ob aus diesen neu gefundenen Banden ein Album entstehen wird, ist noch unklar. Sollte es dazu kommen, bleibt nur zu hoffen, dass Mangums Truppe sich dabei auf die Grundpfeiler stützt, die sie Ende der Neunziger mit diesem großartigen Machwerk geschaffen haben.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
19 Kommentare mit 15 Antworten
Eines der großartigsten Alben, die ich kenne. Ich würd mich über einen Meilenstein hierzu freuen, denn den hat dieses Album echt verdient!
Meilenstein!
Da haben ja zwei ihren Willen bekommen. Zurecht. Bin seit dem ersten Hören vor ein paar Jahren verliebt in dieses Album.
"Failure - Fantastic Planet", "Herbert - Bodily Functions", "Michael Mayer - Immer"... mal drei weitere Vorschläge für allgemein anerkannte Meilensteine im Rock und in der elektronischen Musik.
Fettes Word @Fantastic Planet
Das Album macht Süchtig.