Jens Balzer erinnert an die 1990er Jahre mit Blick auf den Mauerfall und die popkulturelle Entwicklung.
Berlin (jas) - Bereits beim Lesen der ersten Seiten von "No Limit - Die Neunziger - das Jahrzehnt der Freiheit" (Rowohlt, 364 Seiten, gebunden, 28 Euro) von Jens Balzer hat man die Fernsehbilder vom Mauerfall wieder genau vor Augen. Damals konnte man das gar nicht so richtig begreifen, was da an den Grenzübergängen am 9. November 1989 vor sich ging. Sowohl im Westen als auch im Osten lief die Kommunikation eher schleppend. Sind die Grenzen jetzt offen oder nicht? Es gab ja so gut wie keine Mobiltelefone, geschweige denn soziale Netzwerke. Demnach verzögerte sich die Nachricht bezüglich der Ausreisemöglichkeit von der damaligen DDR in den Westen. Letztendlich ist eine Narkoseärztin aus der Nähe von Magdeburg die erste Ostbürgerin, die mit ihrer Tochter im Auto über die Grenze fährt. Sie wollte ein Dosenbier für ihren Mann kaufen. Leider hatte sie kein Westgeld in der Tasche.
Diese und zahlreiche weitere Geschichten und Anekdoten erzählt der Journalist und Autor in seinem dritten Buch über eine Dekade nach "Das entfesselte Jahrzehnt - Sound und Geist der 70er" und "High Energy - Die Achtziger". Oft mit humorvollen Beschreibungen und immer mit Blick auf die popkulturelle Entwicklung und die gesellschaftlichen Veränderungen. Dabei geht es weit über den gruseligen Ohrwurm von David Hasselhoffs "I've Been Looking for Freedom" hinaus. "Smells Like Teen Spirit" von Nirvana spielen ebenso wie die Spice Girls eine große Rolle in den deutschen Charts. 2 Unlimited aus den Niederlanden sorgen für einen prägenden Eurodance-Sound und ein Songtitel ist wohl auch Namensgeber für dieses Buch: "No, no, no, no, no, no / no, no, no, no / no, no there's no limit ("No Limit", 1993).
Der Traum von Freiheit und offenen Grenzen war damals in vielen Köpfen, funktionierte aber irgendwie nicht so richtig. Die Mauer war weg, aber Ost und West nicht wirklich vereint. Ist es überhaupt das Jahrzehnt der Freiheit? Wie war das damals in den Berliner Clubs? Wo feierte man und mit wem? "No Limit" liefert dahingehend einen intensiven Einblick. Auch hinsichtlich Modeschöpfungen, von Neon über Stonewashed bis hin zu Hautverzierungen: "Das Arschgeweih wird rückblickend eine der wesentlichen Signaturen des Jahrzehnts sein."
1993 sind Dinosaurier die beliebtesten Kinohelden ("Jurassic Park"), aber auch in der Musik liebt man den Gitarrensound von Dinosaur Jr. Die Simpsons gehören sogar heute noch zu den absoluten Kult-Trickfilmen. Es ist auch die Zeit der Generation X. Douglas Coupland schreibt ein Buch über die Jugend und eine immer schneller werdende Kultur. Grunge und Gammel-Look zeigen, wer du wirklich bist. Entweder man lungert zu Hause herum, distanziert sich von gemeinsamen Aktivitäten, klimpert auf der Gitarre herum oder nutzt seine Kreativität und trägt sie in die Welt hinaus. Nach dem Mauerfall zieht es viele Künstler nach Berlin, sei es auf den Potsdamer Platz, der damals noch eine Brache ist, oder in die zahlreichen leerstehenden Häuser.
Die Jugend tanzt auf der Loveparade gemeinsam in den nächsten Morgen hinein: Techno ist der Soundtrack der Wiedervereinigung. Das World Wide Web entwickelt sich und verstärkt die Hoffnung, dass sich die Welt zum Guten wendet. Die böse Realität zeigt sich stattdessen in den rechtsextremen Angriffen auf Migranten und geflüchtete Menschen in Rostock-Lichtenhagen und Solingen. Schreckliche Bilder. Bei den rassistischen Anschlägen in Mölln werden 1993 zwei Mädchen, Yeliz Arslan (10 Jahre) und Ayse Yilmaz (14 Jahre) sowie die Großmutter von Yeliz, Bahide Arslan (51 Jahre), getötet. Der Balkankrieg beginnt 1991 im ehemaligen Jugoslawien, sämtliche Klimakatastrophen sind schon vorprogrammiert.
Jens Balzer widmet sich auch der immer populäreren Körperkult-Bewegung. Neben Mode und Tätowierungen sind vermehrt auch Brust-OPs en vogue. Frauen und Männer legen sich unters Messer, um sich zu optimieren und anderen zu gefallen. Botox wird bereits 1989 als Medikament in den USA zugelassen. Der Schönheitswahn der 1990er Jahre hallt bis heute nach, angefacht von den sozialen Netzwerken. Der Krieg und die Klimakatastrophe sind so nah wie noch nie. Alles ist noch extremer als früher. Es wird gehetzt, gemobbt und gejammert. Und eine rechtsextreme Partei sitzt im Bundestag.
Manchmal wünscht man sich die Ruhe zurück. Nicht immer erreichbar zu sein und nicht jeden Trottel-Kommentar lesen zu müssen. Einfach mal das Handy ausschalten und ein Buch lesen. Zum Beispiel "No Limit" von Jens Balzer.
Jens Balzer: No Limit - Die Neunziger*
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2 Kommentare mit 9 Antworten
Wenn er weder Wu-Tang noch The Afghan Whigs erwähnt, brauche ich das nicht lesen 8)
Voll gut, endlich werden die 90er mal aufgegriffen. Ne Chart Show dazu wäre nice.
Unbedingt... Oliver Geissen hat schon zugesagt
Wenn ihr schonmal was von Jens Balzer gelesen hättet, würdet ihr hier nicht so eine Scheiße schreiben.
Oh, Müsjö hat wohl Kültür, sachma.
Wenn Kärbholz nicht monatlich Platten ins Volk scheißt, muss man halt woanders pöbeln. Zeig mal bisschen Verständnis.
Watt willse? Wüsste nicht, wo ich mal was über diese Band gesagt haben sollte
Kann gut sein. Aber sag's netter, Gueldi Ich find''s nen verständlichen Reflex bei was hier sonst schon angepriesen wurde
Auch anhand des Textes klingt es eher gewöhnlich. Aber ich vertrau dir jetzt mal. Liegt dann eher an Laut.
@Chris: Bitte um Entschuldigung, war schlecht gelaunt vong Arbeit her. Ich probiers nochmal:
Die Rezession ist leider echt nicht so gut, das sie Balzers schreiben meiner Ansicht nach überhaupt nicht gerecht wird.
Balzer ist einer der sehr wenigen Kulturwissenschaftler:innen im deutschsprachigen Raum, die es schaffen, populärkulturelle Phänomene kritisch in einen gesamtgesallschaftlichen Kontext zu stellen. Dabei bringt er ein enormes Fachwissen und vor allem die Fähigekit mit, so zu schreiben, dass auch Menschen außerhalb seiner akademischen Herkunft seine Texte verstehen können, mehr noch: sie sind dabei sogar scheiße unterhaltsam!
Neben seinen Abhandlungen über die Jahrzehnte (70er und 80er hat er schon beschrieben) kann ich vor allem sein Essay über Kulturelle Aneingnung ("Ethik der Appropriation") empfehlen.
Besser?
Viel besser und auch total verständlich
Naise.