Verstörend, atonal, einflussreich: Der britische Klangpionier, der ein eigenes Genre aus der Taufe hob, ist im Alter von 65 Jahren gestorben.

Konstanz (mis) - Richard H. Kirk, Gründungsmitglied der nordenglischen Elektronik- und Industrial-Pioniere Cabaret Voltaire ist tot. Der Musiker starb im Alter von 65 Jahren, wie das Label Mute Records in einem Statement bekannt gab. Dort heißt es: "Mit großem Bedauern bestätigen wir den Tod unseres lieben Freundes Richard H. Kirk. Richard war ein herausragendes kreatives Genie, das einen einmaligen Weg für sein Leben und seine Karriere beschritten hat. Wir werden ihn sehr vermissen und bitten um die Wahrung der Privatsphäre seiner Familie." Über die Todesursache und das Datum wurden keine Angaben gemacht.

Die Geschichte der Band beginnt 1974 in Sheffield, wo Gitarrist Kirk mit Sänger und Bassist Stephen Mallinder und dem Elektronik interessierten Chris Watson konfrontative Ideen ausbrütet, um diese musikalisch und optisch umzusetzen. Der Bandname hierfür ist schnell gefunden, strebte doch auch das Zürcher Cabaret Voltaire in den Zehnerjahren des letzten Jahrhunderts nach Umstürzung herrschender Verhältnisse. Die ersten Songs vermischen minimalistische Riffs mit grollenden Tape-Loops, Keyboard-Störgeräuschen, Schreiorgien und sonstigem Gefiepe - Melodien Fehlanzeige - um auch ja nicht in die Nähe der damals angesagten UK-Rockbands wie Led Zeppelin gesetzt zu werden.

Der verstörende, atonale und Ende der 70er zunehmend elektronische Abrissbirnensound ist seiner Zeit meilenweit voraus und zieht zahlreiche Postpunk-Freaks an, die auch den performativen Charakter der Liveshows schätzen. Stilistisch befinden sich Cabaret Voltaire damit in der Nähe ähnlich provokant agierender Bands wie Throbbing Gristle und SPK. Die Terrorismus-Bandschleife "Baader Meinhof" von 1979 etwa klingt nicht weniger gruselig als Ian Curtis' bekannte Schauerarien.

Im selben Jahr erscheint das Cabaret Voltaire-Album "Mix-Up" auf Rough Trade, 1981 folgt "Red Mecca", das als Klassiker ihrer Diskographie gilt. Kalte, repetitiv knallende Sequenzer-Beats, unheilvolle Arrangements und trostloser Gesang liefern die Antithese zu allem, wofür Rock'n'Roll steht und verkörpert so gesehen auch die Geburtsstunde der Electronic Body Music, denen später Front 242 und Nitzer Ebb weitere Meilensteine hinzufügen. Von Bernard Sumner (New Order) ist der Satz überliefert: "Cabaret Voltaire brachten mich auf die Idee, Musik ohne Gitarren zu machen".

Live stapeln Cabaret Voltaire in den 80er Jahren haufenweise Second Hand-Fernsehgeräte auf ihrer Bühne, die ihre Visuals abspielen. Nicht selten geben einige von ihnen noch während des Konzerts den Geist auf. Kirk erkennt auch früh die Bedeutung des Mediums Musikvideo und kreiert Bildcollagen - oft in schlichtem Schwarz-Weiß gehalten - die Musik, Film, Theater und Performancekunst zusammen führen.

Mit dem 1979er Song "Nag Nag Nag", das vor 20 Jahren in Remixform (Akufen, Tiga und Zyntherius) ein neues Publikum fand, steht auf ewig ein Szene-Hit des Dark Electro auf ihrem Konto. Nach einer Begegnung mit House-Pionier Marshall Jefferson in Chicago 1988 bewegen sich Cabaret Voltaire auf die aufblühende Techno-Bewegung zu, ohne ihre experimentelle Seite einzubüßen. Später arbeitet Kirk als Sweet Exorcist maßgeblich am neuen Sound of Sheffield mit, den Warp Records erfolgreich in die ganze Welt exportiert. Er veröffentlicht unter diversen Pseudonymen, darunter auch Electronic Eye.

Unter dem Namen Cabaret Voltaire tritt Kirk nur noch alleine in Erscheinung. 2009 reanimiert er den Namen und remixt die neuseeländische Dub-Band Kora. 2014 spielt er beim Berlin Atonal das erste eigene Konzert als Cabaret Voltaire und veröffentlicht Soloplatten, zuletzt "Shadow Of Fear" im letzten Jahr.

Seinen Idealen blieb Richard H. Kirk bis zuletzt treu. Laut eigenen Angaben habe er vor Jahren vom amerikanischen Coachella Festival "eine sehr hohe Summe" angeboten bekommen, sollten Cabaret Voltaire im Original-Line Up auftreten. Kirk sagte das Angebot mit der Begründung ab: "Es wäre eine Beleidigung des Cabaret Voltaire-Spirits".

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laut.de-Porträt Cabaret Voltaire

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