Heimelige Clubatmosphäre beim exklusiven Deutschlandkonzert: der Boss, die E Street Band und 45.000 Fans.
Hannover (laut) - Die Beziehung zwischen Musikliebhabern und Stadionkonzerten ist eine komplizierte. Bierbecherbalancierendes Eventpublikum, eine suboptimale Akustik im weiten Rund und eine äußerst anonyme Atmosphäre können den Konzertbesuch vermiesen. Auch ein Teil der fast 45.000 Besucher und Besucherinnen des Bruce-Springsteen-Konzerts am 5. Juli in der Hannoveraner Heinz von Heiden Arena muss dem berühmt berüchtigten Eventpublikum zugerechnet werden.
Der Bierdurst und der aktuelle Spielstand des parallel laufenden EM-Viertelfinales zwischen Spanien und Deutschland scheint einem Teil des Publikums auf den Tribünen wichtiger zu sein als Springsteen und seine E Street Band. Zumindest lassen die vielen Gänge zur nächstgelegenen Imbissbude, die sich rasch leerenden Bierbecher und die ständigen Blicke aufs Smartphone diesen Schluss zu. Und ja, vor allem zu Beginn des Auftritts lässt auch die Akustik in der Arena zu wünschen übrig. Insbesondere der erstmalig während der laufenden Tour gespielte "E Street Shuffle" entwickelt sich leider zum Klangbrei-Shuffle. Doch ist die Atmosphäre eine andere als bei den meisten Stadionkonzerten. Denn Springsteen und Band lassen eine Nähe zu, die andere Acts dieses Kalibers nicht zulassen.
Nachdem die E Street Band den Klassiker "The Promised Land" angestimmt hat, zieht es Bruce Springsteen erstmals in Richtung Publikum. In den ersten Reihen zeigt man sich nicht nur gesangsfreudig, sondern auch textsicher. Der stilvoll gekleidete Boss (weißes Hemd, blaue Weste, rote Krawatte) wirkt ehrlich gerührt, schüttelt Hände, lässt sich mit Fans fotografieren und schreibt Autogramme. Was bei anderen Künstlerinnen und Künstlern aufgesetzt wirkt, wirkt bei Springsteen grundehrlich: Ihm nimmt man nicht nur jede Zeile ab, die er singt, sondern auch die Aufrichtigkeit jedes Handschlags. Zeigt sich hier einfach nur die Routine eines Vollprofis, dessen Debütalbum vor mehr als 50 Jahren erschienen ist? Mag sein. Aber die Aura, die der 74-Jährige ausstrahlt, beeindruckt. Er hopst nicht von einem Bühnenende zum anderen, spuckt nicht und hält keine Monologe zur Rettung der Welt. Stattdessen lassen er und seine Band die Musik für sich sprechen – eine weise Entscheidung.
Heterogene Setlist, einer der ganz großen Hits fehlt
Andere Legenden konzentrieren sich bei Liveauftritten seit Jahrzehnten fast ausschließlich auf die ganz frühen Jahre ihres Backkatalogs. Springsteen hingegen präsentiert an diesem Abend mal wieder ein buntes Potpourri an Liedgut seiner fünf Jahrzehnte umspannenden Karriere – auch, wenn der Fokus auf den Songs seiner Durchbruch-Scheibe "Born To Run", seiner wohl besten LP "Darkness On The Edge Of Town" und dem Kassenschlager "Born In The U.S.A." liegt, also auf den Songs der Jahre von 1975 bis 1984. 16 der 30 in Hannover dargebotenen Stücke stammen von einem jener drei Alben.
Während sich andere ehemalige notorische Setlistveränderer inzwischen auf feste Setlists während einer Tour verlegt haben, bleibt sich der Boss hinsichtlich der musikalischen Abwechslung treu. So überrascht er an diesem Abend etwa mit dem sehr gelungenen Livedebüt von "Janey Needs A Shooter" vom 2020er-Album "Letter To You". Einen seiner ganz großen Hits spielt er hingegen nicht: Auf "Hungry Heart" warten viele Fans vergeblich. Andererseits beweist Bruce Springsteen an diesem Abend, dass sich seine besten Songs aus diesem Jahrtausend (wie der Konzertopener "Lonesome Day" oder "Wrecking Ball") auch live nicht hinter den Klassikern verstecken müssen.
Den ganz großen Applaus holen sich dennoch die Evergreens "The River", "Because The Night", "Badlands", "Born To Run", "Dancing In The Dark" und selbstverständlich "Born In The U.S.A." ab – wohl auch, weil sie sehr orthodox, sprich albumgetreu dargeboten werden. Die E Street Band glänzt jedoch vor allem bei den Songs, die ihnen mehr Zeit gewähren, ihr musikalisches Können zu zeigen – etwa im vorletzten Song des Abends, dem kaum wiedererkennbaren The Top Notes-Cover "Twist And Shout". Insbesondere Jake Clemons am Saxophon und Steven Van Zandt an der Gitarre haben sich zu diesem Zeitpunkt durch brillante Soli längst in die Herzen der Zuhörerinnen und Zuhörer gespielt.
Bei zwei Balladen kommt Clubatmosphäre im Stadion auf
Nach dem fröhlichen, jamartigen "Twist And Shout" verlassen Springsteen und die E Street Band unter großem Applaus die Bühne. Zum finalen Song des Abends, "I'll See You In My Dreams", kehrt lediglich der Boss mit Gitarre und Mundharmonika zurück – und beweist (wie zuvor bereits im Mittelteil des Konzerts mit dem rührenden, seinen verstorbenen ehemaligen Bandkollegen gewidmeten "Last Man Standing"), dass er fast 45.000 Menschen dazu bringen kann, für knapp vier Minuten andächtig zuzuhören. Heimeliger kann es in einem Stadion nicht zugehen.
Da verzeiht man auch die auf den drei Leinwänden parallel zum Gesang eingeblendeten deutschsprachigen Übersetzungen der Lyrics von "Last Man Standing" und "I'll See You In My Dreams". Diese sind schlichtweg unnötig, denn Englischkenntnisse auf Unterstufenniveau genügen, um jene Texte eigenständig zu übersetzen – zumal die ruhigen Songs an diesem Abend zumindest differenzierter klingen als die Uptemponummern und die Worte Springsteens bei den Balladen großteils zu verstehen sind.
"Wir lieben euch!", lässt der Boss, ungeachtet seines riesigen kommerziellen Erfolgs immer noch einer der unterschätztesten Songwriter der Musikgeschichte, das Publikum nach drei musikalisch überzeugenden Stunden auf Deutsch wissen, ehe er die Bühne verlässt. Mehr Wohnzimmer geht nicht.
Björn Buddenbohm und Dennis Rieger.
Setlist:
- Lonesome Day
- Candy's Room
- Adam Raised A Cain
- My Love Will Not Let You Down
- Prove It All Night
- The E Street Shuffle
- Into The Fire
- The Promised Land
- Janey Needs A Shooter
- Darlington County
- Working On The Highway
- Spirit In The Night
- My Hometown
- The River
- Nightshift (Commodores-Cover)
- Last Man Standing
- Backstreets
- Because The Night
- She's The One
- Wrecking Ball
- The Rising
- Badlands
- Thunder Road
Zugabe:
- Born In The U.S.A.
- Born To Run
- Bobby Jean
- Dancing In The Dark
- Tenth Avenue Freeze-Out
- Twist And Shout (The-Top-Notes-Cover)
- I'll See You In My Dreams
1 Kommentar mit 2 Antworten
Das deutsche Publikum wieder mit Stock im ihrwisstschon... Habe zum Glück in Kilkenny und Nijmegen 2 völlig verschiedene Shows erleben dürfen - einer der letzten ganz Großen ♥
Und zu diesen Shows hast du auch jeweils den Pit aufgemacht. Mega!
Einer muss es ja machen