Unwetter über dem See, Fans aus aller Welt, auf der Bühne "Sexy Boy" und "Unfinished Sympathy".

Montreux (kluk) - Als ich das Einkaufszentrum verlasse, sehe ich die Wogen des Meeres – doch halt, das ist ja der Genfer See. Was sich den sonnigen Montag über noch gut verdrängen ließ, ist wahrgeworden: Thunderstorm, Lightning, Rain. Publikum aus aller Welt muss draußen warten, ehe sich um 20:30 Uhr die letzten zwei Drittel des 5.500 Personen starken Infields der nagelneuen Montreux-Jazz-Seebühne füllen.

Mit freudigem Applaus quittiert das Mosaik aus bunten Regenponchos die Ankunft der Air-Bühnentechniker, die Schlagzeug und Synthstationen von ihren überdimensionierten Regenmänteln befreien. Ab jetzt wirds kuschelig. Massive Attack und Air entern Montreux: Es ist jenes Event, das als erstes den Ausverkauf melden konnte.

Und entsprechend eng (gefühlt enger als noch bei Kraftwerk vor einigen Tagen) fühlt sich das hier jetzt an. Nach den Durchsagen, die um "One Step Bey ...", äh, "Forward" bitten, winkt auch schon ein guter gelaunter Louis Delorme mit den Trommelstöcken. Gemeinsam mit ihrem Live-Drummer starten Nicolas Godin und Jean-Benoît Dunckel um Punkt 21 Uhr ihre 45-minütige "Moon Safari".

Auf "Moon Safari"

Das Opener-Bassriff "La Femme D'Argent" wärmt von innen, wenngleich pünktlich zum Tremolo-Synth-Finale auch wieder der Regen mittrommeln mag. Mit grellen Jubelschreien begrüßt Montreux im Anschluss "Sexy Boy". Spätestens jetzt ist das angesichts der Massive Attack-Shirt-Quote empfundene Konzept von Vor- und Hauptband kaum haltbar. Dank gewohnt betörendem Montreux-Sound heben die Live-Drums die 98er-Platte auf ein deutliches punchigeres Niveau - Chillout-Vokabular darf sich heute hintenanstellen.

Air kredenzen den perfekten, aber auch im besten Sinne plätschernden Soundtrack zum Sonnenuntergang. Full-Album-Konzerte in allen Ehren, da ist es doch fast eine Schande, dass Air das Erlebnis nach dem "Le Voyage De Pénélope"-Abspann noch um einige spätere Einzeltracks erweitern. Egal: Die Gedanken sind frei und trocken ist es auch noch. Das war so nicht zu erwarten.

Viele Fans nutzen die einstündige Umbaupause (das sind aber auch viele LED-Leinwände) in weiser Voraussicht, um sich noch mal mit Ohrenstöpseln zu versorgen, die das Festival hier großzügig bereitstellt. Die meisten belassen es bei zwei Paar neonfarbenen Schaumstoff-Pfropfen, nur einige deutschsprachige Vertreter fallen mal wieder mit 'So viele wie zwei Hände tragen können'-Mentalität auf. Ungefähr so habe ich mir immer Frühstücksbuffets auf Mallorca vorgestellt.

Die kühle Brise vom Genfer See: Massive Attack

Auch Massive Attack setzen in Montreux auf Mäßigung und bitten per Leinwandnachricht, auf Fotos und Videos zu verzichten. "Get Your Head Out Of The Cloud" steht da. Oder war es doch "In The Cloud"? Völlig egal, mit Verdunklung der Bühne breitet sich ohnehin eine wohlig-nostalgische Lähmung aus, aus der sich das Publikum erst mit langsamem Kopfnicken befreien kann. Ausschnitte von Elon Musks Neuralink-Brain-Chip-Experimenten sind zu sehen, Bandkopf Robert Del Naja trällert darüber Gigi D'Agostinos "In My Mind" – okay, kann man so machen, hat man so nicht kommen sehen.

Mit dem Basslauf von "Risingson" macht die siebenköpfige Liveband dann alles klar. Zu Del Najas erstem reverbgeschwängert "Dream On" weht vom Genfer See eine kühle Brise herüber, und ich glaube, besser als mit diesem Gefühl kann man die nun folgenden anderthalb Stunden auch nicht mehr beschreiben. Natürlich dienen die "Mezzanine"-Hits auch an diesem Abend wieder als roter Faden, Horace Andy und Elizabeth Fraser sei Dank.

Doch auch das ebenfalls von Andy performte "Girl I Love You" vom 2010er-Studioalbum "Heligoland" entwickelt mit Live-Drums und Gitarre (Angelo Bruschinis Nachfolger gibt alles) noch einmal einen ganz anderen Sog. Leinwand-Highlight: Die Massive Attack-KI wird mit Livebildern der vorderen Publikumsreihen gespeist und identifiziert diese binnen Sekunden wahlweise als "Coin Collector", "Tattoo Designer" und am Ende allesamt als "Diebe".

Die Young Fathers geben sich mit drei Songs (zwei bisher nicht releaste) die Ehre, Daddy G hingegen ist seltener denn je zu sehen. Dabei ist Dirigent und De-Facto-Leader Del Naja gar nicht mal auf eine One-Man-Show aus: "Unfinished Sympathy" und das Tim Buckley-Cover "Song To The Siren" finden gänzlich ohne seine Bühnenpräsenz statt. Priorität: Ausdrucksstärke. Und die ist gegeben, weit mehr noch als bei der irritierten "Mezzanine"-Jubiläumsrutsche 2019 mit ihrem fünfzigprozentigen Cover-Anteil. Versetzte Fremdkörper-Cover von Ultravox (!) und Avicii (!!) gibts zwar auch heute wieder zu hören, der Intensität des Augenblicks tut das – unerwarteterweise – allerdings keinen Abbruch.

Leises Murren, laute Buhrufe

Das finale "Group Four" gestalten Fraser und Flüstervocalmatador Del Naja noch einmal gemeinsam: Während sich die Liveband nun endgültig in Rock-Rage spielt, gibts im Hintergrund die große Palästina-Excel-Tabelle. Generell fällt es dem deutschsprachigen Rezensenten heute etwas schwer, dem freundlicherweise in Französische transkribiertem Leinwandgeschehen zu folgen. Sichtbar aber: Bilder aus Kyiv und Gaza. Videos von Putin: leises Murren. Videos von Netanjahu: laute Buhrufe. Der Kontrast der Fiebertraum-Collagen zu den lieblichen Vocals: schwer zu ertragen.

Setlist Massive Attack:

In My Mind (Gigi D'Agostino Cover)
Risingson
Girl I Love You
Black Milk
Gone
Minipoppa
Voodoo In My Blood
Song To The Siren (Tim Buckley Cover)
Inertia Creeps
ROckwrok (Ultravox cover)
Angel
Safe From Harm
Unfinished Sympathy
Karmacoma
Teardrop
Levels (Avicii Cover)
Group Four

Fotos

Montreux Jazz Festival, 2024 Die kühle Brise vom Genfer See - und "Mezzanine" als roter Faden auf der neuen Seebühne.

Die kühle Brise vom Genfer See - und "Mezzanine" als roter Faden auf der neuen Seebühne., Montreux Jazz Festival, 2024 | © Montreux Jazz Festival (Fotograf: Lionel Flusin) Die kühle Brise vom Genfer See - und "Mezzanine" als roter Faden auf der neuen Seebühne., Montreux Jazz Festival, 2024 | © Montreux Jazz Festival (Fotograf: Lionel Flusin) Die kühle Brise vom Genfer See - und "Mezzanine" als roter Faden auf der neuen Seebühne., Montreux Jazz Festival, 2024 | © Montreux Jazz Festival (Fotograf: Lionel Flusin) Die kühle Brise vom Genfer See - und "Mezzanine" als roter Faden auf der neuen Seebühne., Montreux Jazz Festival, 2024 | © Montreux Jazz Festival (Fotograf: Lionel Flusin) Die kühle Brise vom Genfer See - und "Mezzanine" als roter Faden auf der neuen Seebühne., Montreux Jazz Festival, 2024 | © Montreux Jazz Festival (Fotograf: Lionel Flusin) Die kühle Brise vom Genfer See - und "Mezzanine" als roter Faden auf der neuen Seebühne., Montreux Jazz Festival, 2024 | © Montreux Jazz Festival (Fotograf: Lionel Flusin) Die kühle Brise vom Genfer See - und "Mezzanine" als roter Faden auf der neuen Seebühne., Montreux Jazz Festival, 2024 | © Montreux Jazz Festival (Fotograf: Lionel Flusin) Die kühle Brise vom Genfer See - und "Mezzanine" als roter Faden auf der neuen Seebühne., Montreux Jazz Festival, 2024 | © Montreux Jazz Festival (Fotograf: Lionel Flusin) Die kühle Brise vom Genfer See - und "Mezzanine" als roter Faden auf der neuen Seebühne., Montreux Jazz Festival, 2024 | © Montreux Jazz Festival (Fotograf: Lionel Flusin) Die kühle Brise vom Genfer See - und "Mezzanine" als roter Faden auf der neuen Seebühne., Montreux Jazz Festival, 2024 | © Montreux Jazz Festival (Fotograf: Lionel Flusin) Die kühle Brise vom Genfer See - und "Mezzanine" als roter Faden auf der neuen Seebühne., Montreux Jazz Festival, 2024 | © Montreux Jazz Festival (Fotograf: Lionel Flusin) Die kühle Brise vom Genfer See - und "Mezzanine" als roter Faden auf der neuen Seebühne., Montreux Jazz Festival, 2024 | © Montreux Jazz Festival (Fotograf: Lionel Flusin) Die kühle Brise vom Genfer See - und "Mezzanine" als roter Faden auf der neuen Seebühne., Montreux Jazz Festival, 2024 | © Montreux Jazz Festival (Fotograf: Lionel Flusin) Die kühle Brise vom Genfer See - und "Mezzanine" als roter Faden auf der neuen Seebühne., Montreux Jazz Festival, 2024 | © Montreux Jazz Festival (Fotograf: Lionel Flusin) Die kühle Brise vom Genfer See - und "Mezzanine" als roter Faden auf der neuen Seebühne., Montreux Jazz Festival, 2024 | © Montreux Jazz Festival (Fotograf: Lionel Flusin) Die kühle Brise vom Genfer See - und "Mezzanine" als roter Faden auf der neuen Seebühne., Montreux Jazz Festival, 2024 | © Montreux Jazz Festival (Fotograf: Lionel Flusin) Die kühle Brise vom Genfer See - und "Mezzanine" als roter Faden auf der neuen Seebühne., Montreux Jazz Festival, 2024 | © Montreux Jazz Festival (Fotograf: Lionel Flusin) Die kühle Brise vom Genfer See - und "Mezzanine" als roter Faden auf der neuen Seebühne., Montreux Jazz Festival, 2024 | © Montreux Jazz Festival (Fotograf: Lionel Flusin) Die kühle Brise vom Genfer See - und "Mezzanine" als roter Faden auf der neuen Seebühne., Montreux Jazz Festival, 2024 | © Montreux Jazz Festival (Fotograf: Lionel Flusin) Die kühle Brise vom Genfer See - und "Mezzanine" als roter Faden auf der neuen Seebühne., Montreux Jazz Festival, 2024 | © Montreux Jazz Festival (Fotograf: Lionel Flusin)

Montreux Jazz Festival, 2024 Das legendäre französische Elektronik-Duo live beim renommierten Event in der Schweiz.

Das legendäre französische Elektronik-Duo live beim renommierten Event in der Schweiz., Montreux Jazz Festival, 2024 | © Montreux Jazz Festival (Fotograf: Lionel Flusin) Das legendäre französische Elektronik-Duo live beim renommierten Event in der Schweiz., Montreux Jazz Festival, 2024 | © Montreux Jazz Festival (Fotograf: Lionel Flusin) Das legendäre französische Elektronik-Duo live beim renommierten Event in der Schweiz., Montreux Jazz Festival, 2024 | © Montreux Jazz Festival (Fotograf: Lionel Flusin) Das legendäre französische Elektronik-Duo live beim renommierten Event in der Schweiz., Montreux Jazz Festival, 2024 | © Montreux Jazz Festival (Fotograf: Lionel Flusin) Das legendäre französische Elektronik-Duo live beim renommierten Event in der Schweiz., Montreux Jazz Festival, 2024 | © Montreux Jazz Festival (Fotograf: Lionel Flusin) Das legendäre französische Elektronik-Duo live beim renommierten Event in der Schweiz., Montreux Jazz Festival, 2024 | © Montreux Jazz Festival (Fotograf: Lionel Flusin) Das legendäre französische Elektronik-Duo live beim renommierten Event in der Schweiz., Montreux Jazz Festival, 2024 | © Montreux Jazz Festival (Fotograf: Lionel Flusin ) Das legendäre französische Elektronik-Duo live beim renommierten Event in der Schweiz., Montreux Jazz Festival, 2024 | © Montreux Jazz Festival (Fotograf: Lionel Flusin) Das legendäre französische Elektronik-Duo live beim renommierten Event in der Schweiz., Montreux Jazz Festival, 2024 | © Montreux Jazz Festival (Fotograf: Lionel Flusin) Das legendäre französische Elektronik-Duo live beim renommierten Event in der Schweiz., Montreux Jazz Festival, 2024 | © Montreux Jazz Festival (Fotograf: Lionel Flusin) Das legendäre französische Elektronik-Duo live beim renommierten Event in der Schweiz., Montreux Jazz Festival, 2024 | © Montreux Jazz Festival (Fotograf: Lionel Flusin) Das legendäre französische Elektronik-Duo live beim renommierten Event in der Schweiz., Montreux Jazz Festival, 2024 | © Montreux Jazz Festival (Fotograf: Lionel Flusin) Das legendäre französische Elektronik-Duo live beim renommierten Event in der Schweiz., Montreux Jazz Festival, 2024 | © Montreux Jazz Festival (Fotograf: Lionel Flusin) Das legendäre französische Elektronik-Duo live beim renommierten Event in der Schweiz., Montreux Jazz Festival, 2024 | © Montreux Jazz Festival (Fotograf: Lionel Flusin) Das legendäre französische Elektronik-Duo live beim renommierten Event in der Schweiz., Montreux Jazz Festival, 2024 | © Montreux Jazz Festival (Fotograf: Lionel Flusin) Das legendäre französische Elektronik-Duo live beim renommierten Event in der Schweiz., Montreux Jazz Festival, 2024 | © Montreux Jazz Festival (Fotograf: Lionel Flusin) Das legendäre französische Elektronik-Duo live beim renommierten Event in der Schweiz., Montreux Jazz Festival, 2024 | © Montreux Jazz Festival (Fotograf: Lionel Flusin) Das legendäre französische Elektronik-Duo live beim renommierten Event in der Schweiz., Montreux Jazz Festival, 2024 | © Montreux Jazz Festival (Fotograf: Lionel Flusin)

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1 Kommentar mit 3 Antworten

  • Vor 3 Monaten

    Die in der Kritik erwähnten politischen 'Einwürfe' in Text und Bild waren vollkommen überladen, erstreckten sich weit über die Hälfte der gesamten Konzert-Dauer (!) und wirkte dadurch äusserst penetrant. Es wurde einem pausenlos irgendwelche Zahlen oder Texte an den Kopf geworfen. Das ganze war schlicht nicht ertragbar. Viele BesucherInnen schauten einander fragend an, einige verliessen das Konzert. Dazu besucht niemand ein Konzert! Massive Attack werde ich mir nicht mehr live anhören.

    • Vor 3 Monaten

      "Massive Attack werde ich mir nicht mehr live anhören."

      Vielen Dank für Ihre Meinung! Ich begrüße Ihre Entscheidung und freue mich über meinen dadurch zukünftig wachsenden Freiraum vor der Bühne. :)

    • Vor 3 Monaten

      Und es liegt ganz sicher nicht daran, dass da die ein oder andere Message eingeblendet wurde, die sich mit deinen politischen Interessen nicht so ganz in Einklang bringen ließ?

    • Vor 3 Monaten

      ich bin überrascht, dass die überhaupt konzerte geben. ich dachte, das wäre so traurig-mit-dem-walkman-durch-den-regen laufen musik