laut.de-Kritik
Düstere Töne, die sich ins kulturelle Gedächtnis eingebrannt haben.
Review von Toni HennigFrühjahr 1998. Modern Talking feiern ihr Comeback, Celine Dion plärrt sich mit "My Heart Will Go On" monatelang an die Spitze der Singlecharts. Unbeschwertheit und Gefühlsduseligkeit stehen auf dem Programm.
Damals stieß ich im Radio auf eine Nummer, die mit ihren schleichenden Zeitlupen-Beats und ihrer unheilvollen Elektronik so völlig anders war als das, was der Mainstream größtenteils zu bieten hatte. Dazu gesellte sich noch eine merkwürdige Stimme, die nach rund eineinhalb Minuten "love you, love you, love you, love you, love you ..." sang. Im Anschluss brach eine schwere E-Gitarre hinein. Emotionale Abgründe taten sich auf. So etwas Düsteres hatte ich noch nie gehört.
Bei dem Stück handelte es sich um "Angel" von Massive Attack, den Opener ihres dritten Studioalbums "Mezzanine". "Mezzanine" sollte die erste CD sein, die ich erwarb, zusammen mit "13" von Die Ärzte.
Der "Angel"-Sänger ist die Reggae-Legende Horace Andy. Andy war schon auf den ersten beiden Massive Attack-Longplayern "Blue Lines" und "Protection" zu hören, die 1991 und 1994 langsame Tempi, die sich bei 80 bpm einpendelten, und atmosphärische Flächen in den Mainstream brachten. "Blue Lines" legte nach Ansicht vieler Hörer den Grundstein für den Trip Hop. Die Band um Robert '3D' Del Naja, Grantley 'Daddy G' Marshall und Andrew 'Mushroom' Vowles, die dem Soundsystem The Wild Bunch entsprang, dessen Parties Mitte der 80er-Jahre in Bristol für Furore sorgten, fand für "Mezzanine" allerdings einen Ausweg aus dem Genre, indem sie organische Elemente in ihre Musik integrierte.
Die vernimmt man wohl am deutlichsten in "Dissolved Girl", das eine noch dunklere Spannung als "Angel" erzeugt, während die verführerischen Vocals von Sarah Jay Hawley für knisternde Erotik sorgen. In der Mitte findet die Nummer schließlich in Form einer heftigen E-Gitarren-Passage ihre Entladung.
Die Produktion der Scheibe, für die die Bristoler noch zusätzlich Neil Davidge gewinnen konnten, erwies sich als äußerst stressig. Zudem kam es noch zu Spannungen, die letzten Endes zum Split der Formation führten. Jedenfalls begann '3D' irgendwann, auf alten Post-Punk- und New Wave-Platten nach Samples zu suchen, da er sie als Teenager gerne aufgelegt hatte. Er wollte ein Album erschaffen, das die selbe nervöse und paranoide Stimmung besitzt wie die Platten von Joy Division, Siouxsie & The Banshees oder Ultravox! Ende der 70er. 'Daddy G', ebenfalls ein großer New Wave-Fan, unterstützte diese Idee.
'Mushroom' konnte mit der Neuausrichtung allerdings überhaupt nichts anfangen, da sich der Sound zu sehr vom Hip Hop entfernte. Während der Aufnahmen entschied sich die Band dafür, im Juli 1997 mit "Risingson" einen Vorboten für das Album zu veröffentlichen. Schon der ließ, wenn man '3D' und 'Daddy G' zu einem verschleppten Beat und dramatischen Elektronikeinschüben rappen hörte, eine beklemmende Stimmung aufkommen.
Im Dezember des selben Jahres sollte "Mezzanine" eigentlich erscheinen, doch '3D' vertiefte sich so sehr in den Schaffensprozess, dass der Release auf das Folgejahr verschoben werden musste. Am 20. April 1998 kam die Platte schließlich auf den Markt. Ein Jahr später warf 'Mushroom' endgültig das Handtuch. Die Spannungen und die Detailversessenheit Del Najas sollten sich letzten Endes eher als Segen denn als Fluch herausstellen, denn hätte es den stressigen Produktionsprozess nicht gegeben, hätte meine musikalische Sozialisation auch einen ganz anderen Verlauf nehmen können.
Zudem hörte sich das, was man auf der Platte geboten bekam, so ganz anders an als alles, was man bis dato gehört hatte. Das Cover der John Holt-Nummer "Man Next Door" klingt immer noch gleichermaßen ungewöhnlich wie unheimlich, wenn monotone Drum-Rhythmen, für die die Band auf ein Sample von Led Zeppelins "When The Levee Breaks" zurückgriff, und Horace Andys Gesang eine verstörende Symbiose eingehen. Ebenso wie das von orientalischen Rhythmen und der flüsternden Stimme Del Najas durchzogene "Inertia Creeps".
Vor "Inertia Creeps", dessen Soundeffekte auf einem Sample von Ultravoxs! "Rockwrok" basieren, findet sich der wohl schönste und berührendste Song, den Massive Attack jemals ausgebrütet haben: "Teardrop". Mit dem fragilen Gesang der Cocteau Twins-Chanteuse Elizabeth Fraser klingt er wie nicht mehr von dieser Welt. Instrumental hat die Nummer mit einem Herzschlag-Beat, einem Regentropfen-Sample, einem melodisch einprägsamen Motiv und schweren Pianoschlägen auch einiges zu bieten. Das Video von Walter Stern mit dem singenden Fötus bildet eine wunderschöne Ergänzung. Das lief kurz nach dem Albumrelease im Musikfernsehen hoch und runter. Bis heute fand das Stück in unzähligen Werbespots Verwendung.
Fraser veredelt mit ihrer Stimme auch ein weiteres Highlight von "Mezzanine", nämlich "Black Milk". In dem Track versprüht sie zu einem dunklen Hip Hop-Beat, einem Sample von Manfred Mann's Earth Bands "Tribute", surrealer Elektronik und dramatischen Piano-Einsprengseln eine Laszivität, die jedem James Bond-Soundtrack zur Ehre gereichen würde.
Das Düstere zieht sich auch durch die restlichen Songs. Da stellt das romantische, von Bob Hilliard und Mort Garson geschriebene "Exchange", das ein sich ständig wiederholendes Sample von Isaac Hayes' "Our Day Will Come" besitzt, und das es am Ende noch in einer Version mit dem Gesang Horace Andys gibt, absolut keine Ausnahme dar. Die Gesamtstimmung der Platte wirkt von vorne bis hinten absolut stimmig. Kein Wunder, dass einige Stücke des Albums über die Jahre immer wieder in Fernsehreportagen, Filmen und TV-Serien auftauchten, um die bedrückende Stimmung zu untermalen, und sich dadurch tief ins kulturelle Gedächtnis eingebrannt haben.
Diese Düsternis spiegelt sich auch in den Lyrics wieder. "Dissolved Girl" kreist darum, sich selbst zu verlieren. "Inertia Creeps" handelt von einer destruktiven Beziehung. In "Angel" drängt sich Besessenheit als leitendes Motiv nahezu auf. "Teardrop" hat Verlust zum Thema. Auch die restlichen Songs bieten inhaltlich nicht unbedingt leichte Kost. Auf jeden Fall verkommen die stimmungsvollen Lyrics alles andere als zum Beiwerk.
Mit der Neuausrichtung Massive Attacks konnten jedoch nicht alle etwas anfangen. Einige Fans und Kritiker stieß sie geradezu vor dem Kopf. Dem Erfolg tat das keinen Abbruch: Die Scheibe erreichte in UK Doppelplatin und hielt sich ganze 42 Wochen in den deutschen Albumcharts.
Letzten Endes ist "Mezzanine" nicht weniger als ein Gesamtkunstwerk für Augen und Ohren. Das Album hat zudem noch eine solch emotionale Tiefe, dass man nicht wiederstehen kann, es in dunklen Stunden immer wieder aus dem Regal zu ziehen.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
10 Kommentare mit 10 Antworten
Schöner Meilenstein. Wie so häufig hätte es auch eine andere Platte sein können, ich hätte eher "Blue Lines" genommen, aber das hier geht auch vollkommen klar.
Stets zu Diensten: https://www.laut.de/Massive-Attack/Alben/B…
Dieser Kommentar wurde vor 3 Jahren durch den Autor entfernt.
Angemessene Huldigung, Toni.
Der Text pendelt auch wunderbar zwischen persönlicher Note, eher weniger bekannten Hintergrundgeschichten zum Produktionsprozess sowie dem internationalen musikkulturellen Einschlag, den die Veröffentlichung dieser Scheibe schließlich bewirkte.
Unterstreicht so ein bissl die Erfahrung, die dich im Falle der übernommenen Greentea Peng-Rezension wohl vor allzu leichtfertig und unangebracht eingestreuten Massive Attack-Referenzen bewahrt hätte, gerade WEIL die überwältigende Mehrheit der Leserschaft mutmaßlich zuerst "Mezzanine" bei deren Nennung assoziiert.
#teamprotection
Whut?!
Was müssen das bloß für hängengebliebene YUPPIES sein, die hier unbeschämt und genauso unverhohlen derlei abgründige Meinungen propagieren!
grundsätzlich gibt es keine 5/5er Alben. Warum? Ganz einfach, es sind 10-12 Stücke enthalten und da ist bei allen doch ne Kröte enthalten. Darum tue ich mir schwer bei so genannten Klassikern die 5* Wertung zu zücken. Da hier aber keine Kröte dabei ist, sonder nur mindestens gute Songs wie zB Group Four, muss man dann doch die 5 zücken. Weil sonst wäre ja die 4 die 5
Group Four nur ein guter Song? :-O
Ach bitte, von einem Aluhutmacher der ersten Stunde und dann in dieser depperten Deutsch-LK-Mentalität: "Es gibt niemanden, der eine Sprache perfekt beherrscht, ich ja auch nicht, daher gibt's in meinem LK auch prinzipiell keine 15 Punkte zu holen", mimimimi, weiß mensch doch gleich, was davon zu halten ist...
Immerhin hast Du Mensch geschrieben, zumindest hast Du damit grundsätzliches begriffen.
Gefällt mir von allen MA-Alben am besten, weil es auch atmosphärisch unglaublich stimmig ist: Ein Album wie eine regnerische Nacht im urbanen England.
Ein fantastisches Album und ein toller Meilenstein. Viele gute Erinnerungen daran und an "AIR", "Portishead", "Archive" usw. Trip-Hop at its best.