Der Sänger, Podcaster und Instagram-Poet schreibt über Familie, die Liebe, Trauma, Trauer und Tod: ein wundervolles, tief berührendes Debüt.
Berlin (dani) - Max Richard Leßmann ist Sänger, er sang einst bei Vierkanttretlager, dann solo, beides sehr weit abseits von meinen musikalischen Präferenzen. Er podcastet irgendwas, das tun ja eigentlich alle und ich ignoriere es weitgehend, ist einfach nicht mein Medium. Außerdem veröffentlicht er Gedichte via Instagram, die ich teils ganz süß, teils komplett banane finde. Hier endet mein beschränktes Leßmann-Wissen auch schon.
Schlichtweg eine faszinierende Erfahrung, dass dieser Mann mit "Sylter Welle" (Kiepenheuer & Witsch, 224 Seiten, gebunden, 22 Euro) nun einen Roman geschrieben hat, nach dessen Lektüre ich mir vollkommen mühelos einbilden kann, den Autor zu kennen. Nicht nur auf diese Jaok-den Namen-mal-irgendwo-gehört-Art, sondern schon ewig. So, wie man jemanden kennt, mit dem man große Teile seiner Vergangenheit geteilt hat. Jemanden, mit dem man an einem Tag, an dem man nichts anderes mehr vor- und deswegen reichlich Zeit hat, auch bei mittelgutem Wetter einen endlosen Strandspaziergang unternehmen würde, und in dessen Verlauf glitscht die Unterhaltung unmerklich von alltäglichem Kleckerkram zu den intimen Themen über, die uns tief drinnen doch alle irgendwie umtreiben: Familie, die Liebe, Trauma, Trauer und Tod.
Urlaub mit Oma und Opa
Genau so funktioniert dieser autobiografisch gestrickte Roman nämlich: Er lässt sich Zeit, beginnt im völlig Trivialen: Der Erzähler lädt seine Leser*innenschaft dazu ein, ihn auf einer Reise, der Titel lässt es ahnen, nach Sylt zu begleiten, wo er ein paar Urlaubstage in Gesellschaft seiner Großeltern zu verbringen plant. Die schildert Leßmann dann, wieder und wieder unterbrochen von Rückblenden und Erinnerungen an zurückliegende Kindheitsurlaube, ebenfalls zusammen mit Oma und Opa. Das alles, umhüllt vom allgegenwärtigen Hauch der Vergänglichkeit, beschreibt er detailgenau und liebevoll.
Wie glitzernde Silberfäden durchziehen Nostalgie, Melancholie und eine gewisse Traurigkeit die Schilderungen, allerdings in derart homöopathischer Dosierung, dass die Erzählung nie ihren federleicht schwebenden Charakter verliert. Ohne es wirklich zu merken, habe ich knapp zwei Drittel des Buches schon verschluckt, als mich zum ersten Mal ein nörgelnder Gedanke anspringt: "Ehrlich? Schlieren in der Margarine und ein Badeunfall - DAS ist die Tragik deines Lebens?" Die Schlussfolgerung ("Das ist ja schon ein bisschen läppisch ...") bekomme ich gar nicht mehr richtig zuende gedacht. Wie auf Kommando öffnet Leßmann nämlich just an diesem Punkt alle Weckgläser mit dem Eingemachten.
Urplötzlich geht einem auf, wovon dieses Buch wirklich handelt: von erlittenen und bevorstehenden Verlusten. Von der Einsamkeit, die die Träger*innen von über Jahre und Jahrzehnte gewahrten Familiengeheimnissen umwabert. Von den Kratern, die der Tod in die Herzen und Seelen von Menschen und in ihre Familien schlägt. Von den hilflosen Strategien, mit der die Zurückgelassenen versuchen, die klaffenden Löcher notdürftig zu stopfen, oder wenigstens irgendwie zuzudecken, um nicht selbst hineinzustürzen, natürlich vergebens.
Vor allem erzählt "Sylter Welle" von der großen Sprachlosigkeit, die unsere Eltern- und Großelterngenerationen noch viel, viel fester im Würgegriff hatte als die Spätergeborenen. Die gelangen - zum Glück - mehr und mehr zu der Erkenntnis, dass man nicht alles mit sich selbst abmachen kann, dass man das auch gar nicht muss, weil es weder eine Schande noch persönliches Versagen bedeutet, sich Hilfe zu suchen.
Die nackte Wahrheit
Nur jemand, der sie an Leib und Seele erfahren hat, kann die Trauer um verlorene Familienmitglieder so beschreiben, wie Max Richard Leßmann das tut. So jemand weiß nämlich, dass es keine hohle Phrase oder banale Floskel ist, sondern die bis auf die Knochen nackte Wahrheit, wenn er schreibt: "Dafür, was man sagt, wenn jemand stirbt, den man lieb hatte, hat die Menschheit noch keine passende Lösung gefunden, jedenfalls keine, von der ich jemals gehört hätte."
Leßmann tut so, als erzähle er seine Biografie einfach so dahin. Dabei analysiert "Sylter Welle" ungemein klarsichtig die Dynamiken zerfetzter Familiengefüge, die Bemühungen, rund um die Löcher eine neue "Normalität" zu weben, obwohl nichts jemals wieder sein wird, jemals wieder sein kann wie vorher. Zumal der nächste Abschied schon überdeutlich am Horizont heraufdämmert: Oppa Ludwig ist offenkundig auch nicht mehr in bester Verfassung.
Wundervolles Debüt
Natürlich ist das Gefühl von Intimität und Vertrautheit eine Illusion. Ich kenne Max Richard Leßmann selbstverständlich noch immer nicht. Die schlichte Tatsache aber, dass ich glaube, haargenau zu wissen, wie es sich angefühlt hat, in der einen oder anderen sehr, sehr ähnlich erlebten Situation in der Haut seines Protagonisten zu stecken, hält aber schon ein äußerst beredtes Plädoyer für die gebotene literarische Qualität. Ein wundervolles, zutiefst berührendes Buch, und mit das Beste daran: Das war erst das Debüt.
Kaufen?
Ja, macht das!
Max Richard Leßmann - "Sylter Welle"*
Wenn du über diesen Link etwas bei amazon.de bestellst, unterstützt du laut.de mit ein paar Cent. Dankeschön!
4 Kommentare mit 45 Antworten
Ist Lesebefehl der intelligentere Bruder von Haftbefehl?
der schwager.
Lesebefehl befolgt. Urgs, nicht mein Stil. Dann lieber Walser (wieder-)lesen. RIP.
Leseprobe bei Amazon angesehen und festgestellt, dass der Stil auch nicht meins ist. Geht so in die Richtung Sarah Kuttner: Gesellschaftliche Phänomene, tragikomisch erzählt.
Aber weil Dani davon so schwärmt und ich es inhaltlich nicht ganz uninteressant finde, kann es sein, dass ich dem Buch, genauso wie dem an anderer Stelle vorgeschlagenen „Kafka am Strand“ später mal ˋne Chance gebe.
Jetzt ist tatsächlich erst einmal Walser dran: Seelenarbeit, liegt schon bereit!
"Gesellschaftliche Phänomene, tragikomisch erzählt."
Ist ja erstmal nichts Falsches dran. Wenn dann aber die Oma den Erzähler bedeutungsschwanger "alte Menschen sind ja nichts mehr wert" anpampt, hört's für mich halt auf. Autor, erspar mir deine dümmliche heavy handed Gesellschafttsschelte, lösch dein Insta, lies erstmal gefälligst die Großen und wag dich vielleicht in zehn Jahren oder nie wieder ans Schreiben, mhh, danke. Dein Diskurs ist abgeranzt af.
"Seelenarbeit, liegt schon bereit!"
Ist nicht mein Lieblingsbuch von ihm. Trotzdem lobenswerte Wahl.
Bin da die Tage drüber gestolpert. Welch eine Erleichterung auch mal Nachwuchsautor*innen zu begegnen, die auch wirklich schreiben können.
https://www.amazon.de/Gew%C3%A4sser-Ziploc…
Schwingi, „Seelenarbeit“ wird auch nicht mein Lieblingsbuch. Manchmal zum Schmunzeln, aber meistens zum Gähnen. Endsiebziger BRD-Idylle und ein Mann, der nicht weiß wohin mit seinen Problemen.
Von zeitgenössischer Literatur fand ich zuletzt „Zwischen Welten“ von Juli Zeh und Simon Urban und „Taube und Wildente“ von Martin Mosebach gut.
Das Vowinckel-Buch habe ich auch auf dem Zettel.
Instagram-poet = Instant nicht-geh
Warum?
der rhyme is fett
Privatwirtschaftlich geführte soziale Netzwerk sind falsch und gefährlich. Jeder, der dort aktiv für Content sorgt, ist Teil des Problems.
Geil! Premiere. Ich halte zum ersten mal etwas, was du hier schreibst, für absoluten Quark.
Muss ja irgendwann mal passieren.
Werde darlegen, warum ich diesen Quark glaube. Aber vorab: wie viele Stunden bist du pro Woche auf insta?
Bin gespannt.
Wieviel Stunden? Laut meiner Bildschirmzeit etwa eine.
@caps:
Ich hab Justus' Album durch.
Ich bleibe dabei, dass Justus dein Dende ist. Und ich hab es (fand ich etwas schade) nicht nebenher, sondern einmal komplett über Headphones und heute meine Favs öfter im Auto gehört. Einige Lyrics, Beats, Songs und Passagen sind großartig. Anderes klingt zu anachronistisch und flasht heute weniger. Zudem hat er dasselbe Problem wie Dende: Die Features halten oft das Niveau nicht und/oder klingen wie ein lauer Abklatsch.
Und seine Themenwahl find ich limitierter, auch wenn viel Sozialkritik dabei ist. Es wirkt irgendwie redundant. Und zu verbissen. Das hab ich bei Dende immer geschätzt. Justus ist wahrscheinlich intelligenter. Aber Dende hat Spaß an der Botschaft durch Spaß am Nachrappen und Eingängigkeit vermittelt. Das hat mich sehr geprägt und so versuche ich auch beides zu verbinden. Dich hat der Berlin Sound mehr geprägt. So haben wir beide gleich viel Liebe für die Sache, aber unterschiedliche Perspektiven. Danke auf jeden Fall für den Tipp. Ich werde 2-3 Songs dauerhaft in meine Playlist aufnehmen.
Wahrscheinlich kannst du meine Sicht nur in Ansätzen nachvollziehen, wie es mir bei dir und Dende ging. Und das ist vollkommen logisch und okay.
Für mich gehören btw beide definitiv zu den besten deutschen Rappern. Anders als Sam
Peacen.
Also, warum glaube ich an diesen Quark: Wegen den nachgewiesenen oder vermuteten negativen Effekten. Die werde ich gleich teilweise aufzählen, und gegen die meisten kann mensch etwas machen. Nur leider liegt das fast immer nicht im Interesse der profit-orientierten Unternehmen, oder es läuft diesem direkt zuwider.
Allerdings ist auch schon die reine Existenz dieser problematisch. Also die der Unternehmen hinter den Netzwerken. Diese verfügen nämlich über eine ungebührliche Menge an Macht durch die Kontrolle dieser Netzwerke. Es gibt viele Länder des globlen Südens, in denen Facebook die Hauptquelle für (politische) Informationen ist, zum großen Teil weil die Netzbetreiber (subventioniert) Tarife anbieten, bei denen die Nutzung von Facebook kostenlos ist. Dadurch können einerseits die Reichen in diesen Ländern durch gezieltes Kaufen von Werbung Einfluss und Macht kaufen, ohne dass das irgendwie reguliert wird. Mehr noch, es ist sogar grheim, wer was wofür bezahlt. Andererseits haben die Betreibet auch sehr viel Einfluss, wenn sie diesen nutzen wollen (und nicht Volltrottel wie Elon sind), um die Meinungen nach ihrem Gutdünken zu formen. Das ist mindestens sehr gefährlich.
Dann ist da das mit den psychischen Nebenwirkungen. Gibt mittlerweile einiges an Untersuchungen und es werden sehr viele Korrelationen nachgewiesen, zwischen Nutzung von sozialen Netzwerken und Depressionen, Angststörungen, Essstörungen, Suizidalität, Einsamkeit, Selbstverletzung, you name it. Und teilweise werden diese psychischen Schäden nicht nur wissentlich toleriert (interne Untersuchungen von meta zeigen zum Beispiel manche dieser Zusammenhänge), sondern sogar gewollt herbeigeführt, wie bei der Abhängigkeit, die manche Menschen entwickeln. Die entsteht by design durch sachen wie endless scrolling und algorithmisch ausgesuchten content samt Optimierung anhand des Nutzungsverhaltens. Es ist das Ziel der Entwickler so viel Bildschirmzeit (und damit Werbeimpressionen) wie möglich rauszuholen.
Viele dieser Sachen lassen sich beheben durch Maßnahmen, die diese Firmen niemals durchführen werden, weil die denen Geld kosten würden.
Das Erstarken rechter Kräfte weltweit korreliert ebenfalls mit den Entwicklungen im Internet. Soziale Medien ohne soziale Verantwortung erlauben Hassgruppen, Hassbotschaften, Hassverbrechen. Videos auf Youtube, Gruppen wuf Facebook, Tweets auf Xwitter, alle werden kaum kontrolliert auf Ideologien, die die Auslöschung von Menschengruppen aufgrund unabänderbarer Eigenschaften propagieren. Mehr noch, nachgewiesenermaßen führen diese (durch rabbit holes auf Youtube, wo die Vorschläge manche immer tiefer reinziehen, durch Gruppen und anzeigealgorithmen auf Facebook, wo rechte Gedanken normalisiert werden und auf einmal akzeptabel erscheinen und es by design keine Gegenstimnen geben kann (oder diese einfach gelöscht und geblockt werden)) zur Radikalisierung rechter Täter. Gibt viele Beispiele von Attentätern verschiedenster Verbrechen, die Manifeste hinterließen, die voll von der dumpfen, braune Scheiße sibd, die beeinflussbaren Menschen dort in die Hirne gepumpt wird, um mehr Werbeimpressionfn zu erhalten.
Dann noch der Datenschutz bzw dessen Tod. Da kann ich noch am ehesten verstehen, wenn es die Leute nicht kümmert, aber ich finde es sehr bedenklich, dass diese Firmen riesige Mengen an Daten über uns horten, selbst wenn wir NICHTMAL DEREN DIABOLISCHE DIENSTE NUTZEN! Riesige Datensatze, aus denen Mensch auch herausfiltern kann, wer trans ist. Oder wer ein Commie ist. Odet wer für dieses oder jenes war. Es können zukübftige Todeslisten sein.
Und das ist nicht sooo weit hergeholt, in den USA hat Facebook schon über eine Fraububd ihre Mutter gesnitcht, nachdem beide über den "sicheren" Messenger über die Abtreibung gesprochen haben, die leider im betreffenden Staat illegal war. Jetzt werden die beiden wahrscheinlich verurteilt werden.
Das ist die super kurzfassung, gibt haufenweise material zu allen vier Bereichen, die ich angeschnitten habe, falls du interessiert bist kann ich dir vielleicht das ein oder andere empfehlen.
Ich für meinen Teil finde, dass jeder, der diese Dienste nutzt, mit daran Schuld trägt, was sie verursachen. Gibt für alles eine Alternative, die nicht von Big Tech geführt wird, falls mensch social media nutzen will, was ich okay finde. Bin selbst auf lemmy, @CAPSLOCKFTW@lemmy.ml
Sonst halt mastodon, pixelfed oder wie auch immer die fb-alternative heißt. Kbin noch, und was auch imner.
Ein punkt fiel mir noch ein, eher nebensächlich: als Startseite für viele menschen machen gerade facebook und insta das internet kaputt, statt cooler dezentraler seiten wie laut.de soll alles gebündelt nur auf diesen Drecksplattformen stattfinden, und wer da eine Präsenz will, selbst als gemeinnützige Organisation, hat eine bad time mit für sichtbarkeit blechen und null Support.
Well, that escalated quickly once more, and once more I'm pretty thankful for all that info, ma sayen!
Nutze selbst relativ wenige der großen Player (Insta zB gar nicht, FB vielleicht einmal im Monat oder so), muss aber zugeben, doch sehr viel YouTube zu glotzen. Da greift die Optimierung der App aufs menschliche Belohnungssystem (zumindest bei mir) schon teilweise ekelhaft gut.
Von daher würde mich interessieren, ob es dafür auch Alternativen gibt, die ernst zu nehmen sind?
@caps: Besten Dank für Deine ausführliche Antwort und die damit verbundene Mühe. Kann da auch sehr viele Punkte nachvollziehen, bzw. bei ihnen voll zustimmen, empfinde das Bild, dass du zeichnest, mit seinem ausschließlichen Fokus auf die negativen Aspekte aber als nicht vollständig.
Komme heute nicht mehr zum umfassenden Antworten, mache ich aber morgen.
Ich schaue auch (evtl leider) noch viel youtube. Tatsächlich sind da einige meiner Lieblingsformate aus dem audiovisuellen Bereich. Ich nutze dafür Newpipe bzw invidious je nach dem ob ich gerade android oder linux nutze.
Gibt aber auch alternativen:
peertube - auf dem activitypub basiertes, föderiertes (wie mastadon, lemmy, pixelfed) System mit dem Ziel youtube zu ersetzen, als ich vor zwei jahren reinschaute, war das angebot nicht gut
Nebula - Bezahl-Streamingdienst irgendwo zwischen Youtube ubd Netflix, von youtubern gegründet und in deren besitzt, größtenteils englischsprachige, aber mmn sehr gute. Relativ günstig und lohnt sich für mich auf jeden Fall
Curiosity stream - auch englischsprachig (ich bin sehr englischsprachig unterwegs im internet ;^/), Fokus mehr auf Dokumentationen, nicht direkt youtube i guess
Dann gibts noch Dailymotion, Vimeo... keibe ahnung, was da so geht.
@gueldi: ich konzentriere mich auf die negativen Aspekte, weil die positiven ja auch ohne die kontrolle durch mächtige privatunternehmen existent sind/wären.
lemmy.ml sehr mittelprächtige Instanzwahl, ma sagen.
Feddit.de würde ich jetzt nehmen, aber ich bleibe erstmal dort. Es ist nicht lemmygrad, dessalines scheibt trotz teilweise fragwürdiger ansichten offen zu sein für lemminge fast aller coleur.
War auch vorher bei vlemny.net, aber der ist ja leider verschwunden. Und die Ibstanz schränkt mich ja nicht ein in den Interaktionen mit anderen.
Ok, vielen Dank erstmal!
Habe nun eine Thorium-Beta-App auf dem Smartphone und in den Trends erstmal einen Trailer zu Expendables 4 gefunden - Kann kaum noch besser werden, eigentlich
bin jetzt auch @CAPSLOCKFTW@feddit.de
@caps: Ich stimme allen deinen Kritik Punkten zu. Das ist ja auch alles hinlänglich dokumentiert und belegt, da müssen wir eigentlich gar nicht mehr darüber diskutieren. Interessant finde ich, dass der Punkt mit der Datensicherheit bei dir so ein bisschen unter ferner liefen vorkommt. Das ist für mich einer der schwierigsten, btw unheimlichsten Punkte überhaupt bei der ganzen Social Media Sache.
Mein „Quatsch“ bezog sich darauf, dass du alle Menschen, die Social Media nutzen, als Teil des Problems bezeichnest. Social Media ist, ob wir das jetzt gut finden oder nicht, Teil unserer alltäglichen Kommunikationskultur geworden. Und es gibt Menschen, die haben nicht das Privileg einfach auf diesen Aspekt unserer Kommunikationskultur verzichten zu können. Zu diesen Menschen gehören unter anderem und insbesondere Kulturschaffende und politisch arbeitende Menschen, also alle die, die darauf angewiesen sind, eine möglichst große Menge von Menschen zu erreichen. Und nein, für die sind die ganzen Alternativen wie Mastodon usw. keine Alternative. Einfach aus dem Grund, weil da nicht genug Leute drauf unterwegs sind.
Jemand wie ich nutzt Instagram schlicht aus Bequemlichkeit, weil da halt die Urlaubsfotos meiner zehn privat bekannten Follower, das Thalia Programm und die letzte Aktion der anarchistischen Gruppe Unterelbe in einem Kanal bequem für mich zusammen laufen. Ob das sein muss, da können wir gerne drüber diskutieren.
Aber Künstler:innen, die versuchen ihr Publikum zu erreichen, und politische Initiativen, die versuchen Menschen zu mobilisieren, einfach pauschal als Teil des Problems zu bezeichnen, finde ich in seiner Kritik, pauschalisierend, verkürzt und ziemlich elitär.
"Also, warum glaube ich an diesen Quark:"
Halt doch einfach mal's Maul
"Und nein, für die sind die ganzen Alternativen wie Mastodon usw. keine Alternative."
Mal hier der Einschub, dass Aktivisten und entsprechende Organisationen auf Mastodon eigentlich überproportional gut vertreten sind. Macht ja auch Sinn: wer möglichst viele erreicheb will, verlässt sich nicht auf nur eine Plattform.
Kunstschaffende, zumindest die mit größerem Publikum tatsächlich weniger (aber immerhin Neil Gaiman).
Ändert natürlich nichts an deinem validen Punkt, dass die Mainstreamnetzwerke für diese leute wichtig sind, könnte ja aber guter Grund sein mal vorbeizuschauen.
@gueldi
Ich ticke, gerade als Kulturschaffender, den Abwehrmechanismus, aber man kann ja auch Teil des Problems sein und es halt mangels Alternativen zähneknirschend hinnehmen. Das Bewusstsein für die Problematik und den, wenn auch vielleicht sehr geringen, eigenen Einfluss darauf sollte mensch aber imo nicht ausblenden.
"Interessant finde ich, dass der Punkt mit der Datensicherheit bei dir so ein bisschen unter ferner liefen vorkommt."
Mir persönlich ist das tstsächlich auch sehr wichtig, aber es ist ein Punkt, der erstmal nur die individuellen Rechte der einzelnen Personen berührt, und wenn dann Menschen sagen, dass ihnen egal ist, dass ihre Daten da genutzt werden, dann ist das halt ein Punkt, wo mensch diesen Menschen nur sehr wenig widersprechen kann. Die dürfen das halt auch okay finden, bzw ich sehe mich nicht so berechtigt von Menschen zu verlangen das nicht okay zu finden, anders als bei den anderen Punkten.
"Und es gibt Menschen, die haben nicht das Privileg einfach auf diesen Aspekt unserer Kommunikationskultur verzichten zu können. Zu diesen Menschen gehören unter anderem und insbesondere Kulturschaffende und politisch arbeitende Menschen, also alle die, die darauf angewiesen sind, eine möglichst große Menge von Menschen zu erreichen. "
Bei den politisch Aktiven bin ich geneigt dir teilweise Recht zu geben, wobei ich von denen schon verlangen kann, dann wenigstens auf Alternativen crosszuposten und sich damit auseinanderzusetzen.
Bei Kulturschaffenden ist mein Verständnis allerdings begrenzt, besonders weil die im Gegensatz zu den politischen Aktionen, die aus der Natur der Sache heraus dahin gehen müssen, wo die Menschen sind, selbst auch Macht hätten deren Publikum zu den Alternativen zu führen. Außerdem verfolgen die durch die Nutzung halt auch egoistische Ziele. Ich bezweifle tatsächlich auch, ob es sich für die lohnt dort zu sein. Das ist ja auch erstmal eine Annahme, die mir zum Beispiel gar nicht hinreichend belegt erscheint. Gerade kleine Künstler haben es doch aufgrund der Algorithmen schwer, wenn sie nicht ordentlich blechen.
"Und nein, für die sind die ganzen Alternativen wie Mastodon usw. keine Alternative. Einfach aus dem Grund, weil da nicht genug Leute drauf unterwegs sind."
Wie gesagt, jeder, der ein paar tausend echte Follower hat, die wirklich an dem Content interessiert sind, kann vielleicht bis zu ein paar hundert davon dazu bewegen, sich bei den Alternativen anzumelden und dort aktiv zu sein. Das dort zu wenig Menschen unterwegs sind liegt ja daran, dass die ganzen Leute, die Teil des Problems sind, nicht rüberkommen. Auch du. Wenn du bei all den Punkten, die ich genannt habe, zustimmst, aber dennoch social media erhalten möchtest, dann schau dir die alternativen an, finde heraus, welche für dich die richtige ist und partizipiere.
@tooli: Ich verstehe deinen Punkt, wehre mich aber echt gegen diese Formulierung "Teil des Problems". Wenn mein Nachbar seine Frau zusammenschlägt, dann rufe ich zähneknirschend die Bullen an, einfach, weil ich keine Alternative dazu habe. Das macht mich aber nicht zu einem Teil des Problems. Das Problem ist die Gewalt, und der Mangel an Alternativen, damit umzugehen.
Und ja, man sollte ein Bewusstsein für den eigenen Anteil an der Problematik haben. Das ist, meiner Perspektive nach, bei den meisten politischen Initiativen durchaus vorhanden. Zum Beispiel gab es nach dem G 20 in Hamburg in der Linken eine sehr große Debatte darum, inwieweit man Social Media in Zukunft nutzen will, und ob es nicht besser wäre, lieber wieder auf selbstorganisierte Strukturen wie Indy Media zu setzen.
Bei Kulturschaffenden bin ich da in vielen Fällen nicht so sicher, finde aber auch, das man nicht von jeder Kleinkünstlerin, die sich versucht ihre Miete zusammenzuhustlen, jetzt auch noch eine kritische Reflexion von Medien und Kapitalismus verlangen kann.
@caps: ja, gerade bei politisch Arbeitenden sollte es drin sein, auch die „guten“ SM Kanäle zu bespielen. Das wird aber auch, soweit ich das beobachten kann, gemacht.
Was die Kultur angeht: ich verstehe nicht, was du mit "egoistischen Zielen" meinst. Ist Geld verdienen, um die Miete bezahlen zu können, für dich ein egoistisches Ziel? Und ansonsten unterschätzt du, glaube ich, die Zwänge, in denen Kulturschaffende stecken. Ich meine hier ja nicht Jan Böhmermann oder die Toten Hosen.
Ich habe in meinem privaten Umfeld z.B. mehrere Theatermacher:innen, die überhaupt gar keinen Bock auf Social Media haben, aber aufgrund der Förderstrukturen gezwungen sind, sich da einen Kanal aufzubauen. In wie weit sind solche Leute denn bitte Teil des Problems?
Zähnenknirschen reicht mir nicht, um in meinen Augen kein Teil des Problems mehr zu sein. Also auch auf den anderen Kanälen aktiv sein ist da das Minimum. Dann habe ich für die Kulturschaffenden, die auch noch auf insta, fb oder xwitter aktiv sind, Verständnis. Klar, die Lebensumstände vieler Kulturschaffender ist prekär und es bedarf da auch teilweise grundsätzlicher Änderungen in unserer Gesellschaft. Andererseits lässt sich jeder, der nur Kultur schaffen will, auch aktiv darauf ein möglicherweise am Existenzminimum zu leben. Und der Mehraufwand den gleichen Post auf zwei Plattformen abzusetzen hält sich in Grenzen.
Aber ich bin bereit meine ursprüngliche Aussage zu relativieren:
Jeder, der dort aktiv für Content sorgt, ist Teil des Problems, außer es liegen gesellschaftliche oder wirtschaftliche Zwänge dafür vor und die Person ist gleichzeitig noch etwa im gleichen Maße auf freien Alternativen präsent.
Und wirst du weiter Teil des Problems bleiben, gueldi?
Gute Frage, caps. Das kommt ein bisschen darauf an, ob ich mich weiter in die komplette, allumfassende Politisierung knechten möchte, oder ob ich mir ein paar Räume erhalte, wo ich auch bequem sein darf. Da bin ich mir noch nicht ganz sicher.
Mach dir doch erstmak ein Bild davon, wie unbequem oder vielleicht sogar bequem das ganze wäre. Ich war früher zwischenzeitlich ein aktiver reddit-Nutzer, bin aber nun viel zufriedener auf lemmy. Einige subreddits fehlen mir etwas, da es (noch) keine adäquate Ersatzcommunity im Fediverse gibt, aber die wichtigsten sind da und der Umgangston und die Kommentarkultur sind viel angenehmer. Ich würde nicht zurückkehren, selbst wenn alle Geschehnisse der letzten Monate rückgängig gemacht werden würden. Wird bei Xwitter->Mastodon wahrscheinlich ähnlich sein, habe aber ersteres nie genutzt und zweiteres nur kurz, da es nicht meinen Vorlieben entspricht. Ich hab es lieber, wenn es um Themen statt um Personen geht.
Aber worauf ich hinaus will: mach dir doch einfach mal ein Konto bei Mastodon, lemmy, kbin oder sonstwo und schau dich um. Was hast du zu verlieren außer etwas Zeit?
True. Ich probier das mal aus und geb dann mal hier Bericht ab.
Falls du dich ranwagen möchtest, aber noch nicht so viele Leute/Communities kennst, denen du folgen möchtest und dann evtl vor nem leeren/uninteressanten Feed stehst, kann ich dir zwei Tipps an die Hand geben:
- Serverwahl: Da Masto/Lemmy etc dezentralisiert sind, musst du dir zu Anfang einen Server suchen, an dem du dich anmeldest. Wenn du da einen Server wählst, der deinen Interessen entspricht, kannst du dir die lokalr Community/den lokalen Feed anschauen und da evtl schnell was finden.
Für lemmy wäre feddit.de denke ich eine gute Anlaufstelle. Bei Mastodon gibt's z.B. auch viele explizit linksaktivistische Server und solche die als Genossenschaft betrieben werden (z.B. https://join.social.coop/) oder lokalspezifischere Server wie z.b. norden.social. wobei bei den spezielleren Serven deine Anmeldung oft manuell bestätigt werden muss.
- Wenn dir das als erster Schritt zu aufwändig ist, kannst du dich auch einfach beim nächstbesten Server anmelden (und später immernoch umziehen, wenn du möchtest). Die Mastodon-App schickt dich per Default zum Beispiel einfach an die Mastodon-eigene instanz (mastodon.social). Eine gute Methode bei Mastodon im Speziellen User/Content zu finden sind Hashtags. Du kannst Hashtags genau wie Personen folgen und dann wird dir jeder Post, der den Hashtag hat, in den Feed gespült. So kannst du dir dann langsam nach thematischen Interessen deine Follows zusammensuchen.
Bei lemmy kannst du natürlich einfach nach communities suchen, die dich interessieren. Ist tendenziell also einfacher, dafür hat Mastodon aber die deutlich größere Userbasis.
(Theoretisch kannst du mit Mastodon auch lemmy-communities folgen und da posten, das ist aber noch nicht so super intuitiv)
Gibt auch noch https://fedi.directory/ als hand-kuratierte Sammlung von möglicherweise Interessanten Accounts.
Danke Gleep, dafür hatteich noch keine Zeit. Ergänzung für Lemmy: hier findet mensch alle Instanzen und Gemeinschaften:
https://lemmyverse.net/
@duri: ganz wichtig, habe Odysee vergessen, das ist quasi youtube als einzelne website, aber open source und dezentralisiert:
https://odysee.com/
Odysee und alles drum herum ziemlicher Müllverein, ma sagen
https://www.theguardian.com/technology/202…
Puh, das hab ich gar nicht mitbekommen
Schund