laut.de-Kritik

Den Wahnsinn komplettiert Olzon mit ihrer Engelsstimme.

Review von

Tuomas Holopainen scheint weder Pausen zu kennen, noch zu schlafen, noch sonst etwas anderes zu tun als zu arbeiten. Die Fanschar wartete zwar vier Jahre auf den Nachfolger zu "Dark Passion Play", dafür schnürte der Songschreiber mit seiner Band ein Paket, das seinesgleichen sucht. Denn hinter "Imaginaerum" verbirgt sich nicht nur ein Konzept-Album, sondern ein kompletter Film, der im nächsten Jahr erscheinen wird.

Die Songs erzählen das Leben eines alten Komponisten namens Tom, der auf dem Sterbebett liegt. Er fällt ins Koma und erinnert sich an seine Kindheit zurück. Dabei wandelt er durch seine Vorstellung und versucht, seine Erinnerungen zurückzuholen. Starker Tobak zwar, aber für Nightwish Motivation und Inspiration genug, ihr Opus Magnum einzuspielen.

Mit "Taikatalvi" legen die Finnen einen recht untypischen Start in das 75-Minuten-Werk hin. Basser Hietala singt bzw. flüstert auf Finnisch. Das Ganze ist unterlegt von einem Glockenspiel, das von einigen Streicher-Elementen begleitet wird und praktisch nahtlos in die erste Single "Storytime" übergeht. Die tänzelnde Keyboard-Melodie nimmt langsam Fahrt auf, die aufbauschenden Gitarrenriffs setzen den Song auf die Überholspur, und dann beginnt Olzon mit zuckersüßer Stimme den Hörer zu umgarnen, schier zu fesseln.

Das London Symphony Orchestra unterstreicht den typischen Nightwish-Sound mit dieser chronischen Ohrwurm-Gefahr. Die Anhängerschaft der alten Tage werden hier die Tendenz ins Poppige kritisieren, was aber nur dazu führt, dass das Stück noch schneller ins Ohr züngelt.

Das Orchester und die nie in den Hintergrund rückenden Metal-Elemente ergeben ein bombastisches Klangbild, das an Opulenz und Epik kaum zu übertreffen ist. Facettenreichtum, Detailverliebtheit und der Anspruch, dass wirklich jedes Arrangement, jeder Drumschlag punktgenau sitzt, machen dieses Hörvergnügen zu einem Porsche unter Ladas.

Dass einige Fans immer noch nicht Anette Olzons großes Talent erkennen, kann man sich bei dieser Stimmgewalt und gesanglichen Mannigfaltigkeit kaum erklären. Ob es im Duett mit Hietala "down down deeper down" immer weiter in eine bedrohliche, finstere Waldlandschaft hineingeht ("Ghost River"), sie fast so frech und schnippisch wie die böse Stiefmutter klingt ("Scaretale") oder verträumt-bluesig von einer verflossenen Liebe singt ("Slow Love Slow"), die Schwedin ist und bleibt die richtige Wahl am Mikro!

Gerade letztgenannter Track geht an die Nieren, berührt in nahezu unglaublicher Sanftheit und steht mit Piano-Klängen und sparsamen aber wirkungsvollen Bläsern im Gegensatz zu den anderen Stücken. Eine Bilderbuch-Ballade voller Emotionen und Gefühl. Doch bevor der beeindruckte Hörer in der endlosen Melancholie versinkt, rüttelt "I Want My Tears Back" riffgewaltig wieder wach. Eine durch Mark und Bein fahrende Dudelsack-Melodie versetzt einen direkt ins Mittelalter und erweckt den Wunsch, Met trinkend einen Schuhplattler hinzulegen. Eine gewisse Nähe zu Folk Metal stört dabei überhaupt nicht, denn der Fünfer bleibt seiner Linie treu und verbindet Eingängigkeit mit bratenden Gitarren.

Ein Kinderchor zu Beginn von "Scaretale" fließt in ein mystisch anmutendes Soundtrack-Zwischenstück und schließlich in ein Double-Bass-Gewitter mit Chören. Gerade diese musikalischen Wechsel sorgen dafür, dass man bei jedem Durchhören etwas neues Faszinierendes entdeckt. In "Arabesque" erlebt man ein Instrumental, das einer Berg- und Talfahrt voller Überraschungen, ungeahnter Kursänderungen und unerwarteter Tempiwechsel gleicht. Die anschließende Ballade "Turn Loose The Mermaids" inszeniert mit Flöten, Streichern und einer gewissen Traurigkeit die Begleitmusik, um in Selbstmitleid zu ertrinken. Den Wahnsinn komplettiert Olzon mit ihrer Engelsstimme. Überragend.

"Song Of Myself" knackt die 13-Minuten-Marke und überrollt dabei alles was im Weg steht mit Bombast, Epos und einem schon unheimlich wirkenden Chor. Die zweite Hälfte des Songs ist gesprochen. Das passt in das Muster des Konzept-Albums und offenbart Gedanken der Hauptrolle Tom: "Stop saying I know how you feel! How could anyone know how another feels?"

Auch hieran werden sich möglicherweise die Geister ein wenig scheiden. Ein Konzept-Album ist als Ganzes zu genießen, weshalb einzelne Lieder nicht so gut funktionieren wie noch auf dem Vorgänger. Das wars aber auch schon: Ein größeres Manko kann man diesem wundervollen Stück Musik nicht attestieren.

Trackliste

  1. 1. Taikatalvi
  2. 2. Storytime
  3. 3. Ghost River
  4. 4. Slow, Love, Slow
  5. 5. I Want My Tears Back
  6. 6. Scaretale
  7. 7. Arabesque
  8. 8. Turn Loose The Mermaids
  9. 9. Rest Calm
  10. 10. The Crow, The Owl And The Dove
  11. 11. Last Ride Of The Day
  12. 12. Song Of Myself
  13. 13. Imaginaerum

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29 Kommentare

  • Vor 12 Jahren

    Ich bin seit 2000 ein großer Nightwish-Fan und habe bis heute mit dem Sängerwechsel so mein Probleme...nicht wegen Tarja per se, sondern weil ich die Stimme von Annette einfach nicht ertrage ohne Ohrenbluten - aber hier kommt auch schon ein Pluspunkt des neuen Albums: Sie kreischt nicht mehr so viel, sondern singt öfters sanft und in tieferen Lagen, so kann ich mir das anhören!

    Zum Album selbst: Musikalisch finde ich es echt umwerfend, das ist ein fulminantes Werk, keine Frage! Aber genau hier liegt auch der Grund, warum ich es mir nicht kaufen werde: Dieses Werk ist ein Movie-Soundtrack, kein reguläres Musikalbum. So sehr ich die Werke von Hans Zimmer und co. schätze, länger als 10 Minuten halt ichs nicht aus. Da lobe ich mir doch eher Wishmaster, She is my sin etc :) Dieses Album ist mir 75 Minuten lang einfach zu anstrengend, und einfach mal einen Song zum Mitjammen einlegen ist hier nicht (einzige Ausnahme: I want my tears back). Not my cup of tea!

    Aber wie gesagt, ein musikalischer Geniestreich ist die Scheibe ohne Zweifel...

  • Vor 12 Jahren

    Dieses neue Werk läuft bei mir jetzt schon öfters als DPP. Ich weiß, dass letzte Album ist 4 Jahre her, aber kauft man öfters CDs, verliert man schon mal den Überblick und die so manche Scheibe aus den Augen. Die Songs machen wirklich süchtig.
    Bei ersten Hörproben dacht ich auch, Annette's Gesang erinnert mich stellenweise doch sehr an ABBA,was überhaupt nicht negativ gemeint, ganz im Gegenteil. Was mich etwas stört ist, dass das Schlagzeug und die Gitarrenriffs etwas knackiger und markanter sein könnten. Denk ich vor allem so bei "Last Ride of the Day". Da hab ich das Gefühl, als ob schon bei der Produktion oder beim Abmischen etwas unsauber gearbeitet wurde. Oder liegt's an meiner Anlage. Ich weiß es nicht. Das passt jetzt zwar nicht ganz, aber wenn ich da an MH's Unto the Locust denke, Schlagzeug und Gitarren knallen da so sauber aus den Boxen, dass es ne Freude ist.
    Ansonsten schließ ich mich an, rundum gelungene Scheibe mit abwechslungsreichen, stilistischen Ausflügen. Zugegeben konnte ich mir ein breites Grinsen nicht verkneifen, als "Scaretale" mittendrin zu einer Jahrmarktnummer wurde / wird..
    Annette klingt hier dann auch viel besser als noch auf DPP.
    Auf den Film bin ich mal gespannt.

  • Vor 12 Jahren

    Nach langer Zeit habe ich mich mal an die Scheibe gewagt und muss sagen, dass das Konzept Richtung "Johnny Deep"-Filme (also entsprechenden Soundtracks) gepaart mit dem alten Nightwish-Sound erstaunlicherweise sehr gut aufgeht. Das driftet für viele in den Kitsch ab, aber es ist für sich eigenständig. Damit meine ich diesen überproduzierten Symphonic Metal in jeder Art und Weise, der irgendwie der Band aber ganz gut steht (und zur Anette) passt. Ich bin sehr positiv überrascht. 4 Punkte