Porträt

laut.de-Biographie

Nonchalant

Gestatten, Pointer, Tanya, nicht verwandt mit den Pointer Sisters. Briefzustellerin, MC, später Radiomoderatorin, dann Metzgerin und DJ von Beruf. Tanya Pointer liest sich so ausgefallen wie Anna Müller. Da erscheint das Pseudonym der Rap-Pionierin kongenial: Nonchalant, dieses französische Wort kann so vieles heißen. Lässig, nicht aus der Ruhe zu bringen, cool, relaxed, form- und zwanglos, auch unbekümmert, unverkrampft, authentisch und stimmig mit sich, natürlich und salopp.

Nonchalant - Until The Day Aktuelles Album
Nonchalant Until The Day
Don't just rap - say something!

Wer die Hymne dieses One Hit-Wonders hört, glaubt alle diese Eigenschaften sofort: "5 O'Clock", das ist das Lied aus den Charts des Jahres 1996, das am meisten mit unbekümmerter Selbstverständlichkeit und lässigem Sprach-Flow überrascht. Und der trifft in Sachen Sozialkritik mitten ins Mark von Washingtons Outskirts. Die MC rüttelt auf. "5 O'Clock ist unglücklicher Weise immer noch relevant. Aufgrund der Zeiten, in denen wir leben, sogar umso mehr, weil wir Dinge wie Social Media und Kameras haben", befindet Tonya heute rückblickend in einem Video-Interview mit dem John F. Kennedy-Center. Auf dem morgendlichen Weg zu ihrer Arbeit im Post-Sortierzentrum imaginierte die damals 25-Jährige eine bessere Welt als die, die sie sah: "In dem Song geht's um Kids, die man von der Straßenecke wegbekommt und die aufhören Drogen zu verkaufen oder selber zu erwerben" kommentierte Nonchalant seinerzeit in einer CBS-Talkshow: "Als Rapperin weiß ich auch, dass mir Kids zuschauen, die wie ich sein und rappen wollen und so weiter. Also passe ich genau auf, was ich sage."

Ein Comeback der Vorbildhaften wäre schön und wünschenswert. Denn das zugehörige Album zeigt, dass Nonchalants Kreativität tiefer reicht. Als genaue Beobachterin zieht sie mit einem sezierenden Blick auf ihre Hood und ihre Heimat in Bann. Die CD "Until The Day", damals auch als Kassetten-Tape erhältlich, fristet dennoch ein Schattendasein. Immerhin, das Plattenlabel MCA exportiert die Debüt-CD nach Südafrika und mit japanischen Schriftzeichen auch nach Asien. Trotz einer halben Million verkaufter Maxi-Single-CDs erlebt das Album jedoch nur einen einzigen Pressungs-Durchlauf, geht rasch unter, wird aus den Handelskatalogen gestrichen, nie wieder aufgelegt oder gar remastered. Geraume Zeit steht es nicht einmal auf Spotify zur Verfügung.

Mit der Black-Lives-Matter-Bewegung nimmt die Bedeutung von Nonchalants Zeilen an Fahrt auf. Denn "Until The Day" hört sich an wie eine soziologische Mikrostudie zum Leben der People of Color in Amerikas Hauptstadt Washington D.C. Dort kam das begeisterungsfähige Mädchen am 18. Oktober 1970 zur Welt. Schon früh übte Gesang einen magnetischen Reiz auf Tanya aus. Von Rap hingegen war zu dieser Zeit nur an ein paar progressiven Hot Spots an der Westcoast, außerdem in Atlanta, Chicago, Cleveland, Houston (Texas), Memphis und Philadelphia die Rede, an der Eastcoast natürlich im Laboratorium New York, in der Region New Jersey und in South Carolina. Die Metropole rund ums Weiße Haus hinkte hinterher. "Wir hätten ein Atlanta oder ein Mini-New York oder sowas in der Art sein können, hätten wir zu der Zeit voneinander gewusst", besinnt sich die First Wave-Moverin der Prä-Internet-Eighties.

In ihrer Stadt trauten sich dann noch in den Neunzigern viele ebenbürtig talentierte MCs nicht an die Öffentlichkeit, denkt sie zurück: "Es gab so viele, die das taten, jedoch nicht die Gelegenheit gehabt hatten, es auf dem Level zu machen, auf dem ich mich befand (...). Die Leute blieben in ihren vier Wänden, wo sie Platten aufnahmen, von denen wir nie erfuhren. (...) Die Rap-Szene war sehr Underground. Man musste danach echt suchen. Wenn du danach suchtest, hast du sie gefunden. (...) Viele Leute kamen sporadisch, aber es gab keine Bewegung. Wir setzten uns alle als Einzelne in Bewegung, ohne so wirklich dessen bewusst zu sein, dass wir als Kollektiv existierten. Hätte ich gewusst, dass sich andere Leute in denselben Lichtgeschwindigkeiten wie man selbst bewegten - aber das kann ich mir nur in meiner Fantasie vorstellen", erinnert sie sich, als ein Reporter des Red Bull-Blogs sie 2022 voller Nostalgie an genau der Bushaltestelle trifft, an der das Video zu "5 O'Clock" entstanden war.

Dass dieser Clip mit seiner ernsten, unter die Haut gehenden Stimmung auf MTV rotierte, frappierte Deutschland so sehr, dass sich der Track in einer Traube von anderen Hip Hop-Sahnestücken in die Charts-Spitzenregionen beamte. Ringsherum überraschten die Delinquent Habits, die Fugees, Bone Thugs N Harmony, Nas, Tupac, Xzibit, Warren G feat. Adina Howard, MC Lyte und LL Cool J. Diese kleine Welle an gerappten Kommerz-Hits nagte die damals massive Eurodance-, Rave- und Trance-Dominanz an. Nonchalant ist nichts weniger als Teil einer Vorhut, die Länder wie Großbritannien (Platz 44) und Deutschland (Platz 30) für Hip Hop generell empfänglicher machten. Jenseits von Lauryn bei den Fugees waren sonst keine Frauen an dieser MC-Front vertreten. Vorher erreichten nur eine Handvoll, darunter ihr Nonchalants größtes Vorbild Janet Jackson in einigen Momenten ihrer "Rhythm Nation"-LP, zugleich Salt'n'Pepa und Queen Latifah, diese Breitenwirkung. Wegen der Art, wie sie Statements setzte, verehrt Nonchalant diese Königin. Gegenüber dem 'Kennedy Center' überschüttet Nonchalant Leitwölfin Latifah mit Lob: "Wenn ich ihr zuhörte, habe ich mich 'empowered' gefühlt."

Zum Empowern braucht man mittelfristig auch Geld. Doch der Geldgeber, die Plattenfirma MCA, hatte wenig Erfahrung mit Street Culture. Dass man Hip Hop verkaufen kann, erkannte der Konzern beim Verbreiten gut gemachter Compilations, im R'n'B-Segment hatte MCA einige Acts unter Vertrag. Das Rappen wurde allerdings nie Schwerpunkt des strauchelnden Unternehmens, das alle paar Jahre den Eigentümer wechselte. Nonchalant ging sang- und klanglos unter, während ein Mixtape oder zweites Album auf Eis lagen. "Die zweite Single, "Until The Day" lief nicht so gut, und bei MCA gab es Umstrukturierungen. Viele Leute kamen und gingen", analysiert sie im Talk mit 97.7 Outlaw Radio FM. Ein neuer Job winkte beim Sender WPCG 95.5. Bei der R'n'B-Station in Washington wird sie im Herbst '97 selbst Radiomoderatorin der Mittagsschiene.

Zu einer Veröffentlichung des Nachfolge-Albums kommt es nie. Doch Nonchalant hatte überhaupt nie mit einer Karriere in der MC-Disziplin gerechnet. "Ich war sehr auf Musik fokussiert, aber Rappen war nicht meine erste Wahl. Tatsächlich hatte ich versucht, eine Sängerin zu werden und hielt nach einer Girl Group Ausschau, um bei einer mitzumachen".

Der Traum von der Gruppe blieb dann ein Wolkenkuckucksheim. Ihr Musikgeschmack war seit jeher schwer kompatibel. "In meiner Jugend wollten Freundinnen oft nichts mit mir unternehmen, weil ich mich weigerte, alles anzuhören, was die so hörten, und weil ich eine Menge Zeug kennen lernen wollte, von dem die nichts wissen wollten. Viele stiegen sogar bei mir aus m Auto aus, wenn ich dort dieselbe Musik unentwegt vor und zurück rotierte", so Tanya vor der Kamera des JFK-Zentrums.

Ein paar Homies aus Philadelphia, The Roots und Bahamadia, passen dann doch zu Nonchalants exzentrischen Musikvorlieben. The Roots verschaffen ihr die Chance auf groovenden Dance-Rap, zu Beats und Bässen von Pete Rock und Marley Marl, und ein zweites Video, in dem sie erst im Mercedes vorfährt und dann zwischen schnellen Schnitten Power versprüht.

Erst und einzig mit der Maxi "What's Up, Shawty?! / Givin' You Back Your Name (Youknowhowiloveyouright?)" hinterlässt Frau Pointer einen digitalen Fußabdruck, mit dem sie später in manchen Streaming-Diensten einen Eintrag bekommt. Nach diesem Song-Triple (2004) folgt sehr lang nichts mehr. Lokal bleibt Pointer bis heute sporadisch als DJ in Washington aktiv. Erst 2021 erscheint neue alte Musik von ihr: ein historischer Track von ihr mit KRS-One, "People Time", und das unter Verschluss gehaltene zweite Album "For All Non-Believers". Zum meilensteinigen Erstling "Until The Day" klafft zwar eine kleine qualitative Lücke. Ein paar starke Tracks halten aber damit Schritt und bestätigen, was die Rapperin einst bei CBS im Fernsehen erklärte: "Meine Musik handelt eigentlich davon, sich gut zu fühlen." - "Ironischer Weise", so Nonchalant in Ontarios Hip Hop-Radiosender, "erschien aber das Tape, für das ich einen Plattenvertrag bekommen habe, nie." Da gab es mal ein Demo-Mixtape ...

Inzwischen haben Gucci Mane, 6Lack, Westside Boogie und A Boogie Wit Da Hoodie sowie das Electro-Team Duck Sauce das französische Wort "Nonchalant" für Songtitel für sich entdeckt, und eine Schwarzwälder Oi!-Punk-Gruppe nennt sich seit 2022 Nonchalant. Eine junge Rapperin in Atlanta, die in ihren Anfängen steckt, tauft sich 2022 frech oder unwissend Noncchalant - mit doppeltem C. Doch trotz solcher Mitbewerber*innen bleibt das sprachgewaltige Reim-Urgestein im Reich der Suchmaschinen ziemlich unique. Und vielleicht findet man irgendwann noch ihre Lost Tapes.

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