laut.de-Kritik

Let there be Punk: Der TikTok-Moment der Millennials.

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Punk und Skateboarden gehören für Tony Hawk seit seiner Jugend im sonnigen Kalifornien zusammen. Im Gespräch mit Loundwire erinnert er sich 2019 daran, wie er als Teenager gemeinsam mit seinen Freunden zu einem Wettbewerb fuhr und Devo aus den Speakern schepperte. Da habe er realisiert: "Das ist der Soundtrack zu dem, was ich tue." Black Flag, Sex Pistols, Buzzcocks und The Dickies zählen zu seinen weiteren Favoriten.

Im Jahr 1999 ist Hawk mehrfacher Skateboard-Weltmeister und daher der richtige Mann, um bei der Entwicklung eines Skateboarding-Games mitzuwirken, das auch gleich seinen Namen tragen sollte: 'Tony Hawk's Pro Skater' oder kurz THPS. In Europa kommt es unter dem Titel 'Tony Hawk's Skateboarding' auf den Markt, damit auch alle schnallen, worum es geht. Zur Jahrtausendwende ist der Funsport mit den flinken Brettern noch recht Underground.

Um ein authentisches Bild des Lebensgefühls der damaligen Skaterszene zu vermitteln, bringt sich Hawk bei der Spielentwicklung auch in Sachen Musik stark ein. Ein Punk-Ska-Rock-Mix soll her, der härtere Klänge genauso wie Eingängiges bietet, etablierte Gruppen (Dead Kennedys, The Vandals) ebenso wie No-Names (Speedealer).

Heraus kommt ein Zehn-Song-Soundtrack, der heute als ikonisch gilt. Nix da Hintergrundmusik: Die knackige Auswahl brennt sich im Laufe ungezählter Röhrenbildschirm-Gamesessions einer ganzen Generation ein. Millennials von San Diego bis Dinkelsbühl entdecken in einer Epoche, die von Britney Spears, Christina Aguilera und Ricky Martin geprägt ist, plötzlich die Magie des Punkrock. Gitarrenmusik statt Plastikbeats. Abgefahren.

Je nachdem, auf welcher Konsole man zockt, unterscheidet sich das Gehörte. Die Playstation-Version wartet mit drei Bonustracks auf, die Spieler:innen von Dreamcast und Nintendo 64 vorenthalten bleiben (und hier darum auch nicht mitgezählt werden). Ohnehin haben Nintendo-Kids das Nachsehen, da die Songs für ihre Konsole aufgrund der Speicherplatzlimitierung auf wenige kurze Sequenzen reduziert werden, die sich dann in einem Loop fortwährend wiederholen. Das steigert die Eingängigkeit natürlich noch mehr.

Technische Limitationen, ein knappes Budget für die Lizenzierung und der Umstand, dass die Beteiligten nicht recht wissen, was sie da tun: All dies trägt dazu bei, dass der THPS-Soundtrack heute so verehrt wird. Ganz abgesehen davon, dass sich die Musik weit schmerzfreier genießen lässt als die stümperhaften Hinterhof-Skate-Versuche. THPS wird oft als einer der besten Gamesoundtracks aller Zeiten gehandelt, und eine eigentümliche Art von Coverbands führt heute live nichts anderes als den Soundtrack dieses Games und seiner Fortsetzungen auf. Ernsthafte Frage: Gibt es das auch von anderen Videospielen?

Der Erfolg kommt zur Jahrtausendwende für alle überraschend, insbesondere für die beteiligten Bands. "Es gab keinen Präzedenzfall, Musik über ein Videogame zu promoten und so eine Bandkarriere anzuschieben", sagt John Feldman zum Kerrang-Magazin. Seine Band Goldfinger ist jene, die am engsten mit der THPS-Gamereihe verbunden bleibt: "Superman", eine supercatchy Ska-Punk-Nummer mit Bläsereinsatz der befreundeten Musiker von Reel Big Fish, geht erst dank dem Game durch die Decke und wird zu dessen inoffiziellem Themesong. Goldfinger spielen damals erstmals überhaupt in Europa und packen "Superman" unbedarft in der Mitte ihres Sets: "Plötzlich drehten die Leute durch", erinnert sich der Frontmann. Erst da dämmert ihnen, welchen Popularitätsschub sie erleben.

Die enge Verbindung von Gamer:innen und Bands ergibt sich fast magisch: Welcher Song gerade spielt, während man seinen virtuellen Skater durch die Levels springen und grinden lässt, ist essenziell. Wie oft habe ich einen Rekordversuch sofort wieder abgebrochen, weil der Zufallsgenerator 'den falschen' Song ausgespuckt hat? Irgendwann schreibt man einen Teil seines Erfolgs (oder Misserfolgs) der Begleitmusik zu.

Nebst dem wirklich nie verleideten "Superman" steht in meinem damaligen Freundeskreis auch "Cyco Vision" von Suicidal Tendencies hoch im Kurs. Das rasante Tempo und die rohe Energie, mit der Sänger Mike Muir und besonders der wirbelnde Drummer Brooks Wackerman da Thrashen: Das schreit förmlich nach einem perfekten Run.

Mit "Police Truck", der B-Side der Single "Holiday In Cambodia" von 1980, schafft es selbst eine Dead Kennedys-Nummer auf den Soundtrack, was unter Fans der kalifornischen Kapitalismuskritiker für Irritation sorgt. Sei's drum: Der ansteckende Surfvibe und Jello Biafras unverkennbare Stimme (die passendste Zeile fürs Game ist eindeutig "ride, ride, how we ride") wecken das Interesse einer nicht gerade kleinen Gruppe junger Menschen.

Zu den (heute) bekannteren Acts zählen auch Primus, für deren Einbindung sich Tony Hawk besonders vehement einsetzt. Das schrullig vor sich hin pluckernde "Jerry Was A Race Car Driver" vom 1991er-Album "Sailing The Seas Of Cheese" klingt mehr nach South Park als nach Skatepark, fängt den unkonventionellen Charakter der Band aber bestens ein. Und immerhin geben sich Les Claypool und Co. einmal kurz auch einem Wutausbruch hin.

Für einige noch völlig unbekannte Bands stellt die Aufnahme in den 'Tony Hawk's'-Soundtrack einen Glücksfall dar: Die texanische Punkband Speedealer war sogar laut ihrem Gitarristen Mike Noyes "völlig jenseits des Radars", bevor sie zum Handkuss kam. Um eine ansprechende Spielzeit zu erreichen, werden ihre beiden rotzigen No-Bullschit-Tracks "Screamer" und "Nothing To Me" kurzerhand zusammengepackt.

Schnörkelloser klassischer Punk (The Vandals), sperriger HC/Noise (Unsane) oder das zappelige, Ska-inspirierte "New Girl" von The Suicide Machines: Die stilistische Bandbreite des Soundtracks ist beachtlich. "Here And Now" von The Ernies – auch sie dürften bis dahin nur Insidern bekannt gewesen sein – bringt mit Sprechgesang und Scratches auch noch Nu-Metal-Feeling in den Mix ein, mal ganz abgesehen von einem der eingängigsten Refrains. Die musikalische Vielfalt erklärt auch, dass sich selbst nach der tausendsten Stunde Dauerzockens keine Ermüdungserscheinungen breitmachen.

Das Game schlug natürlich ein wie eine Bombe und verlieh nicht nur dem Skatesport, sondern auch der Punkmusik ordentlich Schub. Das Timing war ja auch ideal: Die Nineties waren gut zu uns gewesen, und das futuristisch winkende Jahr 2000 versprach Verheißungen über Verheißungen. Energydrinks und dieses Internet waren sicher nur der Anfang. Die Zukunft war endlich da, und ein Game entpuppte sich als der heiße neue Weg, um Musik zu entdecken. Der TikTok-Moment der Millennials.

Natürlich zog THPS mehrere Fortsetzungen nach sich, und der Namenspatron konnte sich vor Bandanfragen kaum mehr retten: Im Cafe hätten ihm Baristas auch schon mal geraten, er solle mal diese oder jene Undergroundband auschecken, die passe perfekt für das Game, erzählt Tony Hawk im Kerrang. "Als wäre ich plötzlich ein Label-Typ!"

Der 'Tony Hawk's'-Soundtrack entwickelte über die Jahrzehnte ein Eigenleben und hält sich weit konstanter als die kommenden und gehenden Nostalgietrends in Sachen Frisuren, Kleidung oder Modeaccessoires. Wann immer "Superman" erklingt, ist bis heute ein Flashback garantiert, der aus Ü40 wieder N64 macht. Diese zehn Songs fangen die Unbeschwertheit der Jugend und das Gefühl eines kalifornischen Sommers in der deutschsprachigen Provinz perfekt ein. Nachgeborene Generationen dürfen gerne den Kopf schütteln, aber bitte: Don't skate on my ramp.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Police Truck (Dead Kennedys)
  2. 2. Here And Now (The Ernies)
  3. 3. Vilified (Even Rude)
  4. 4. Superman (Goldfinger)
  5. 5. Jerry Was A Race Car Driver (Primus)
  6. 6. Screamer/Nothing To Me (Speedealer)
  7. 7. Cyco Vision (Suicidal Tendencies)
  8. 8. New Girl (The Suicide Machines)
  9. 9. Committed (Unsane)
  10. 10. Euro-Barge (The Vandals)

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