laut.de-Kritik
Fifty Shades of Reggaeton.
Review von Johannes JimenoIn der Welt des Reggaeton gibt es nur wenige Künstler, die auch hierzulande bekannt sind. Neben Megastars Bad Bunny, J Balvin, Maluma oder Daddy Yankee muss man schon überlegen, wer einem noch einfällt. Wer sich mit dem Genre beschäftigt, stolpert aber früher oder später über den Namen Rauw Alejandro - oftmals Featuregast und zuletzt vor allem durch seine gescheiterte Beziehung mit Rosalía in Erscheinung getreten. Die Strahlkraft Alejandros ist dennoch beachtlich, gehört er mit 50 Millionen Streams doch zu den 100 meistgestreamten Künstler:innen weltweit.
Nun geht der gebürtige Puerto-Ricaner aufs Ganze und legt sein bisher ambitioniertestes Werk vor: "Cosa Nuestra" ("Unser Ding") tritt wuchtig mit eineinhalb Dutzend Tracks, einer Spielzeit von knapp über einer Stunde und zehn Features auf. Gleichbedeutend formuliert er einen musikalischen Liebesbrief an seine Heimat. Denn über die Hälfte der geladenen Gäste kommen entweder direkt vom Inselstaat oder hat entsprechende Vorfahren.
Auch seinen Vorbildern zollt er Tribut. Denn wenn man Raúl Alejandro Ocasio Ruiz eines lassen muss, dann den Fakt, dass dieses Album unfassbar abwechslungsreich und mutig klingt. Der Mann bespielt nicht nur verschiedenste Nuancen des Reggaeton, sondern auch lateinamerikanische Genres, die er mit einem modernen Sound verknüpft.
Angefangen beim Titeltrack, einer Interpolation des Bolero "Qué Lío" von Willie Colón und Héctor Lavoe, bei dem Rauw elegant croont und eine edle Bühne bereitet. "Amar De Nuevo" kokettiert zu Beginn mit Reggaeton, bevor es ebenfalls in den Bolero kippt. "Tú Con Él", ein gleichnamiges Cover von Frankie Ruiz, besticht durch zauberhaften Salsa. Im romantischen "Khé?" kombiniert Alejandro gemeinsam mit Romeo Santos ein Saxophon mit Bachata. Anders wild entpuppt sich "Mil Mujeres", bei dem Merengue, D'n'B und Latin-Pop eine Melange zelebrieren.
Reggaeton nimmt selbstredend am meisten Raum ein, darunter subsumiere ich jetzt frech auch urbane Schnittmengen. Das dubbige "Déjame Entrar" gibt sich entspannt süßlich, das darauffolgende zeitgemäße "Qué Pasaría" tanzbar und verträumt. Ein stets famos aufgelegter Bad Bunny stachelt Rauw zu einer intensiveren Performance an. Die dreckige und sehr vulgäre Variante "Baja Pa' Acá" hätte er sich indes sparen können. Ihm und Alexis y Fido zuzuhören, wie Frauen in Bondage beglückt werden, muss wirklich nicht sein.
Ebenso fragwürdig gerät der Latin-R'n'B "Ni Me Conozco", in dem er den Womanizer spielt und mit anderen Frauen schläft, um die Eine zu vergessen. Da möchte offenbar jemand der lateinamerikanische The Weeknd sein. Den klassischen, blechernden Reggaeton gönnt sich Alejandro mit dem Kolumbianer Feid im soliden "Revolú". Warum Pharrell Williams beim belanglosen "Committed" mitmischt und lediglich "It's that great" von sich gibt, weiß keiner. Zudem hört sich Rauw auf Englisch wie ein verweichlichter Chris Brown an.
Im Gewand des Urban-Trap gelingen ihm hingegen zwei waschechte Banger: Zum einen "Espresso Martini" mit infektiöser Synth-Melodie zu tiefen Bässen und knatternden Hi-Hats. Marconi Impara mimt den harten Gangster, Yan Block den verschlagenen Mobster, und Rauw bildet einen schönen Kontrast mit lieblicher Hook. Zum anderen "IL Capo" mit hektischer Melodieführung und einem emotionalen, sehr eindringlichen Protagonisten. Hier finden sich in der dritten Strophe auch ein interessanter Beatwechsel sowie generell etliche Soundschnipsel. Zwar werkelten zehn Produzenten an dem Track, dem Endergebnis schadet dies gleichwohl nicht.
Das reicht dem Mittelamerikaner aber noch nicht, denn ab Song Nummer 13 biegt er in Pop-Gefilde ab. "Se Fue" vollführt das Kunststück, ein frisches und doch angestaubtes Power-Pop-Duett mit Softrock-Einlagen aufs Parkett zu zimmern. Arm in Arm mit der Italienerin Laura Pausini trällert er tapfer schicksalsschwangere Zeilen - übersetzt aus dem Spanischen: "Vorbei ist der Duft ihres Haares / Vorbei ist das Flüstern ihrer Stille / Vorbei ist ihr sagenhaftes Lächeln / Vorbei ist der süße Honig, den ich auf ihren Lippen schmeckte / Er ist weg, und ich bin allein mit seinem Gift / Sie ist fort und meine Liebe wurde mit Eis bedeckt / Sie ist fort, und das Leben mit ihr ist vorbei / Sie ist fort, und seitdem hatte ich nichts als Tränen." Nicht weit weg von Schlager-Lyrics.
Mediokren House-Pop liefert "Pasaporte" mit dem Produzenten Mr. Naisgai. "Touching The Sky" versucht sich am Disco-/Synthie-Pop, "2:12 AM" samt der mexikanischen Formation Latin Mafia ergänzt noch verschrobenen Indiepop-Rock. "SEXXXMACHINE" wirft abermals Synthie-Pop und Rock in den Thermomix, herauskommt jedoch eher ein krudes Dessert. Immerhin zeigt sich Alejandro von seiner sympathischen Seite, wenn er im Outro Fans, Producern und Freunden dankt und sich auf die Tour freut.
Am Ende bleibt dennoch ein gewisser Unmut zurück: Rauw will am liebsten alles können, scheitert aber zuweilen im Detail und in der Umsetzung. Wenn er gemäß seiner Wurzeln aufspielt, evoziert er die stärksten Momente, der Rest verharrt leider nur im Mittelmaß. Über seine Stories habe ich noch gar nicht gesprochen, und die ernüchtern immens. Auf seinem fünften Album gibt es zwar viel Hörenswertes, jeder findet etwas, das ihm taugt.
Meine des Spanisch mächtigen Kritikerohren vernehmen hingegen viele langweilige Klischees. Es dreht sich quasi alles ums weibliche Geschlecht: Er liebt manchmal alle und dann nur die Eine. Er bezirzt wie kein Zweiter, hat aber Bindungsängste. Sie spielt nur Spielchen mit ihm, er schmollt. Und natürlich fehlt der zuhauf bemühte Beischlaf in allen Facetten nicht. Dazwischen flext Alejandro mit seinen Besiztümern, und sowieso ist er der Geilste.
Man hätte sich spannendere Themen erhofft, zumal Rauw ständig von sich behauptet: "Soy un laberinto sin salida." ("Ich bin ein Labyrinth ohne Ausgang"). Summa summarum könnte "Cosa Nuestra" so auch den Titel "50 Shades of Reggaeton" tragen.
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