laut.de-Kritik

Perlen des Sprechgesangs nicht nur für Kopfnicker.

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Steckt die Lüge im Leben, oder ist es umgekehrt? Schon mit der Wahl seines Albumtitels aus gerade einmal vier Buchstaben provoziert Sage Francis Fragen - und zeigt gleichzeitig, wie eng die beiden Begriffe doch miteinander verbunden sind, betrachtet man sie aus ungewohntem Blickwinkel.

In Sage Francis bekommt man es mit einem Meister der Perspektive zu tun, einem wortgewaltigen Sprachkünstler, für den die Bezeichnung "Rapper" seltsam unzureichend erscheint. Seine Wurzeln in der New Yorker Slam Poetry-Szene liegen von der ersten Zeile an bloß.

Einem Dichter begegnet man da, einem Wortspieler, einem Propheten, dem die Ernüchterung, die offene Augen und ein messerscharfer Verstand bescheren müssen, trotzdem nicht die Visionen geraubt haben. Rhythmusgefühl und elaborierte Rap-Skills polieren seine Texte zu wahren Perlen des Sprechgesangs.

Diese bleiben in der für "Li(f)e" gewählten Darreichungsform keineswegs nur einem Hip Hop-affinen Publikum vorbehalten. Zahlreiche Songwriter und Musiker aus alternativen Gefilden strickten, stickten und frickelten an den musikalischen Gewändern, die zugleich dazu taugen, eingefahrenen Kopfnickern die Scheu vor dem Rock mit der Gitarre auszuprügeln.

"Shooting to be a rock star like it's my last hope": Von vertrauter, oft nur unterdurchschnittlich spannender Hip Hop-meets-Rockgitarren-Ästhetik dabei keine Spur. Wie kommts? "Wir haben extra Songwriter ausgesucht, die nie zuvor mit einem Rapper gearbeitet haben", erklärt Sage Francis.

"Und ich wollte nicht, dass sie Musik schreiben, von der sie dachten, sie sollten sie schreiben, wenn es Hip Hop werden soll." Vielmehr passierte es umgekehrt: Der Rapper kam, hörte und passte sich ein in das, das Jason Lytle (Grandaddy), Chris Walla (Death Cab For Cutie), Mark Linkous (Sparklehorse) und Konsorten zu bieten haben.

Das ist eine ganze Menge, es muss nämlich keineswegs immer nur die überstrapazierte Indie-Dreifaltigkeit aus Schlagzeug, Gitarre und Bass sein. Countryeske Tupfer schmücken "Polterzeitgeist" oder das im Refrain wie eine trunkene Schunkelei im Pub um die Ecke anmutende "Worry Not". In der wehmütigen Grundstimmung von "The Baby Stays" klackern Percussion-Elemente.

Gitarre und schräge Streicher eröffnen "I was Zero". Ebenfalls Streicherklänge flirren höchst anstrengend durch "Diamonds And Pearls", bis glockenspielartige Töne und ein quakender Bass für Erdung sorgen. In "Slow Man" regiert gar das große Johnny Cash-Gefühl.

Geradezu poppig erscheint der warme, basslastige Vibe, über dem Sage Francis in "Love The Lie" seinen enormen Flow ausgießt. Ein Kinderchor hinterlässt in "London Bridge" nicht etwa den allzu üblichen süß-klebrigen Kulleraugen-Eindruck. Eher meint man, von einer marodierenden Anarcho-Horde überrollt worden zu sein.

"How close can you go without touching it?" Eine Frage, die auch auf den Genre-Spagat anwenden lässt. Ist das nun Hip Hop? Ist es Gitarrenmusik? Beides? Keins von beiden? Was für eine bescheuerte, weil einengende Frage ist das überhaupt? Der Clash der Welten funktioniert zur Abwechslung endlich einmal prächtig.

Dem durchschnittlichen Head werden Gitarren geradezu schmackhaft gemacht, auch, wenn er sich an der einen oder anderen Stelle ein wenig überreizt vorkommen mag. Im Gegenzug lernen Indie-Pop-Rock-Alternative-Anhänger möglicherweise die Vorzüge eines gut gemachten Rap-Textes zu schätzen.

"My hands bleed 'cause they reached for some answers and got trampled by a stampede." Sage Francis hadert mit Gott und der Welt, der Politik, menschlichen Befindlichkeiten, dem Leben und dem ganzen Rest, ohne in Dauergrant oder Trübsinn abzurutschen. Wut, Trotz und Hunger hält beißender Witz die Waage. "I've learned: Life is a cliché." Verstehen, wie es ist: eine Sache. Sich damit abfinden: eine ganz andere.

"It's beautiful, brutal, cruel" - und leider alles andere als "business as usual": Sage Francis jongliert mit Worten, ihren Klängen und Bedeutungen mit einer Lässigkeit, mit der sich andere noch nicht einmal in der Nase bohren, und tönt dabei je nach Bedarf einlullend, fesselnd, stinksauer, immer jedoch höchst eindringlich. "You call that talent?" Yes, Sir. I do.

Fast sieben Minuten brauchen Sage Francis und Jason Lytle, um die Story des Autodiebes, Ausbrechers und hingebungsvollen Sohnes Christopher Daniel Gay nachzuerzählen, die bereits Bluegrass-Sänger Tim O'Brien zu einer Ballade inspirierte. Doch "this ain't no country western song".

"Little Houdini" mit seiner schier greifbaren Hoffnungslosigkeit und dem aufflackernden Irrwitz, die aus Musik und getriebenen Worten sprechen, liefert ein Paradebeispiel dafür, dass die Realität immer noch die krassesten Geschichten schreibt.

Mag alles andere gelogen sein, Sage Francis und Mitstreiter setzen mit "Li(f)e" ein Fanal: Für langweilige Songs gibt es keine Entschuldigung. Dafür ist das Leben zu kurz.

Trackliste

  1. 1. Little Houdini
  2. 2. Three Sheets To The Wind
  3. 3. I Was Zero
  4. 4. Slow Man
  5. 5. Diamonds And Pearls
  6. 6. Polterzeitgeist
  7. 7. The Baby Stays
  8. 8. 16 Years
  9. 9. Worry Not
  10. 10. London Bridge
  11. 11. Love The Lie
  12. 12. The Best Of Times

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