laut.de-Kritik
Das Traumpaar kickt den Trash zur Seite.
Review von Philipp KauseVor dem Album "I Said I Love You First" war eigentlich nicht der Dance-Pop auf "Rare" Anfang 2020 Selenas letzter Longplayer, sondern ein Soundtrack. Vergangenen Winter lief ein spannender Film übers mexikanische Drogenkartell-Milieu in den Kinos, "Emilia Pérez", zu einem Drittel ein Musical. Es erinnert an fünf Dinge, die bei Selena Gomez wichtiger sind, als man meinen könnte: Dass sie zwar super singen kann, ihr Talent auf ihren Soloalben aber an miese Musik vergeudete. Dass sie sich sehr als Stimme der Latinas in den USA identifiziert und daher gerne auch auf spanisch singt. Dass sie sich für Mental-Health-Themen und psychische Probleme interessiert und gerne ihr Innerstes nach außen kehrt. Dass sie hervorragend schauspielert und davon beim Singen profitiert. Und dass sie Wutausbrüche, Streit und sogar Schlägereien brillant auf der Leinwand umsetzen kann, obwohl sie selber eher sanft und harmoniebedürftig ist.
Auf "I Said I Love You First" merkt man das recht oft. Es blubbert in einem ruhigen und zuckersüßen Fahrwasser, versetzt mit dem ein oder anderen Schuss bittersüßer Melancholie. Das Thema ist die Verwandlung der platonischen Freundschaft zu Benny Blanco in eine Liebesbeziehung. Die Interpretenangabe Selena Gomez & Benny Blanco führt dabei in die Irre, denn ihr Lover ist nur partiell an der Produktion beteiligt und taucht als Video-Darsteller in den YouTube-Visuals auf. Seine Stimme vernimmt man nur einmal undeutlich.
Als Musikproduzenten kennt ihr Benny Blanco wahrscheinlich, ohne es zu wissen ("Eastside" mit Halsey). In der Latin-Connection mit dem Kolumbianer J Balvin und dem Puerto-Ricaner Tainy legten Selena am Mikrofon und Benny am Mischpult bereits 2019 einen mittleren Hit gemeinsam hin. Der klingt auch heute mit seinen Pump-Bass-Beats noch richtig gut, und für alle, die damals erst drei waren, taucht er als regulärer Album-Track hier wieder auf ("I Can't Get Enough"). Beim Superhit "Lonely" (2020) stand Blanco bereits einmal als Feature-Name in Justin Biebers Tracklist, konnte aber weder die auseinander divergierenden Einzelzutaten des Liedes harmonisieren, noch unseren Rezensenten damit beeindrucken - erzielte in Deutschland trotzdem Platz 9 der Charts.
"Lonely" dürften sich Benny aus dem Nordosten der USA und Selena, aufgewachsen in Texas, nicht vorkommen. Sie hatten einige Jahre, um sich aneinander zu gewöhnen und verstehen, wie die oder der andere arbeitet. Erst nach langer Bekanntschaft trafen sie sich ab Mitte 2023 privat. "I Said I Love You First": Die Frau beansprucht für sich, dass sie das getan habe. Zur Sprache kommt das in einem viel zu leise abgemischten Voice-Schnippsel: Es ist kein Song, sondern Geräusch-Trash mit Hack- und Klacklauten dazwischen. Die erlesen schnuckelige Ballade "Don't Take It Personally" handelt von Vorherbestimmung bei der Partnerwahl und davon, wie man die neue Person den Eltern vorstellt und spürt: "It's official."
Wir haben in diesem Magazin schon eine ganze Stange an Gomez-Alben besprochen, die in Summe Plug-In-Müll waren - die abgewracktesten Dance-Bausteine für die Tonne. Von der Person Selena, die in Interviews gerne gesellschaftspolitisch wird, die ihre bipolare Störung (also manisch-depressiv zu sein) öffentlich machte, die eher ein mutiger Mensch ist, spiegelte sich in der Musik nichts wider. Kommerziell flutschte das. Wenn schon Club-Beats, dann ordentlich, sauber produziert, an zwei, drei ausgewählten Punkten, so lautet dagegen jetzt das Motto: Die Disco-Beats in "Don't Wanna Cry" klingen denen bei Freya Ridings aktueller LP irgendwie ähnlich, "the saddest part is we know, we both know that I would never leave". Dann bietet "Sunset Blvd" Electropop im Julia-Michaels-Melodram-Stil. Diese Freundin Selenas hat zwar nicht dort, aber an einem anderen Tune mitgefeilt. Gomez umgibt sich gerne mit Vertrauten. Entsprechend kuschelig gestaltet sich die Scheibe.
"Sunset Blvd" dient als Hymne der Begeisterung über das Gefühl, sich als Paar öffentlich zu zeigen. Der (abschnittsweise) am schnellsten gesungene und zugleich sphärischste Track mit künstlichem Cello im Intro, heißt "Bluest Flame" und erweist sich nicht nur rhythmisch als stringent. Die Worte spulen gleich drei Rollen vorwärts in Richtung ewiger Verbundenheit. "Say you'll never leave my side!". Leise kitzelnde und gedämpfte Basketball-auf-Aschenbahn-Dribbel-Beats erinnern von fern an die Dance-Vergangenheit: "But I had a dream, that you said, you were sorry."
Ihre mexikanischen Wurzeln hochzuhalten, die sie von den Großeltern väterlicherseits hat, war ihr in ihrer Karriere stets wichtig. Gomez steht für die Sichtbarkeit der Latino-Community in diesen Trump-Zeiten und für den Erfolg von Latina-Frauen im Showbiz ein. Dazu gehört jetzt auch das Lied "Ojos Tristes" mit Strophen in ihrer zweiten Muttersprache. Bei ihr hört sich Spanisch so weich wie Portugiesisch an. Wer mehr davon möchte, findet es auf der EP "Revelación" vom März 2021 und auf besagtem "Emilia Pérez"-Soundtrack. "Ojos Tristes", das einigen Samba-Flair versprüht, ist nicht das einzige Lied mit traurigen Augen (Don't Wanna Cry"). Insgesamt ist "I Said I Love You First" ein schwer- bis wehmütiges, romantisches und musikalisch sehr gut komponiertes Album voller eingängiger Harmonien. Es behandelt die frisch gebackene und fließend aus Sympathie und Zusammenarbeit gewachsene sexuelle Anziehung als kostbares und zerbrechliches Gut, das gegenseitige Vertrauen als etwas Edles, das schnell entschwinden kann, obwohl es langsam entstand.
Ein Highlight spielt sich in der Quasi-Live-Übertragung des Sich-Verliebens zur Akustik-Gitarre in "How Does It Feel To Be Forgotten" ab. Die folgenden Zeilen kann man nach drei Mal Hören im Schlaf mitsingen, so eingängig und schön sind sie: "I sip it in the way he likes / ruby red, lockin' eyes / lipstick kisses with no ice / on the edge, paradise / You walked in, big ass grin ..." Doch die Abhängigkeit von dieser einen-oder-keinen-Person nagt an den Nerven. "I love you, and I hate that you know", singt sie im Bonus-Track "Stained", dessen Status als Outtake angesichts der kurzen Album-Spieldauer wenig Sinn ergibt. "Scared Of Loving You" spielt bereits Trennungsszenarien durch. Heute muss man ja auf alles gefasst sein. "I'm just scared of losing you / I'm not scared of anyone, of dying young."
Sofern die Partnerschaft sich so gut entwickelt wie die Musik, hat das Traumpaar eine große Zukunft vor sich. Die beiden passen dahingehend zueinander, dass sie in gleichen Erfolgs-Ligen unterwegs sind, aber bei gemeinsamen Erfahrungen doch unterschiedliche Spezialgebiete im Entertainment haben. Aus dem Trash-Tal der früheren Selena-Alben hat das Pärchen jedenfalls den Ausgang gefunden.
Noch keine Kommentare