laut.de-Kritik
Ein Thema, das aktuell ist wie nie - der gläserne Bürger.
Review von Jakob Rondthaler"Das Hören dieser CD in einem Kraftfahrzeug ist wegen der enstehenden Gefahren strengstens untersagt. Ebenfalls gefährlich und deshalb verboten ist das Herumgehen im Raum und die Verrichtung von Haushaltstätigkeiten. Bitte verbleiben Sie während der gesamten Spieldauer in sitzender Haltung", warnt die Autorin Juli Zeh zu Beginn von "Corpus Delicti".
Diese "Ansage" ist natürlich nicht ernst gemeint, sondern soll den Hörer in die von ihr entworfene Zukunftsvision eines Überwachungsstaats entführen. Wer der "Schallnovelle" folgen möchte, sollte sich trotzdem eine Stunde Zeit nehmen und sich in Ruhe hinsetzten.
"Courpus Delicti" kann man zumindest schlecht nebenher, nicht im Auto und auch nicht während der Hausarbeit hören. Denn was hier folgt ist anstrengend, beklemmend und düster. Und wenn man sich darauf einlässt stellenweise auch genial.
Am Anfang steht der im Frühjahr erschienene Roman Juli Zehs, den sie zuvor bereits als Theaterstück veröffentlichte. Zeh inszeniert ein Thema im Jahr 2057, das schon in diesen Tagen aktuell ist wie nie: Überwachung und Kontrolle von Seiten des Staats - der gläserne Bürger. Im Falle des Romans die sogenannte Methode, die durch strikte Kontrollen und Sicherheitsvorkehrungen jegliche Form von Krankheit, jeden Erreger und jeden Virus vernichten möchte und die Gesundheit zum höchsten Gut erklärt.
Im Vorfeld der Geschichte nimmt sich Moritz Holl, Freigeist und somit Auflehner gegen die Autorität, das Leben. Ihm wurde vorgeworfen, eine junge Frau vergewaltigt zu haben. Er beteuert jedoch seine Unschuld, und an seine Unschuld glaubt auch Schwester Mia, die das Handeln der Methode und somit die Methode selbst für den Suizid ihres Bruders verantwortlich macht.
Mia wird zur Protagonistin der Erzählung, bewegt sich dabei in einem Konflikt zwischen Romantik und nüchterner Wissenschaft, schwankt zwischen Chaos und Ordnung. Lässt sich in der ausgelebten Sehnsucht nach ihrem Bruder gehen und gerät in Konflikt mit der Methode, die einen nur dann wirklich in Ruhe lässt, wenn auch der Kilometerstand auf dem Hometrainer den vorgegebenen Richtlinien entspricht. In einem solchen Regime ist schon der Zug an einer Zigarette ein Vergehen.
Perfekt passt zu dieser Atmosphäre die klaustrophobisch-beklemmende, dunkel-umwobene musikalische Untermalung der Ingolstädter Band Slut, denen Einordnung als Indierock-Band eigentlich längst nicht mehr gerecht wird, sprengen sie mit der Schallnovelle "Corpus Delicti" doch erneut die Genregrenzen. Und das nicht nur, weil jeder der sieben neuen Songs unterschiedlich klingt.
Das großartige "Where's The Army" erinnert dank den Dynamikumbrüchen, dem mehrstimmigen Chor, der sich über die Klavierpassagen legt, und dem treibendem Schlagzeug stellenweise an Muse. Das Picking über dem dazu verschobenen Rhythmus im Intro von "Healthy Life Accident" ähnelt dem Stil des letzten Radiohead-Albums.
Slut untermalen die von Zeh mitunter neu arrangierten Text-Passagen teils mit hymnischen Rock-Songs, teils mit Gottesdienst ähnlichen Orgel-Klängen ("600"), lassen sich von der Stimmung des Romans oder einfach von einzelnen Zitaten inspirieren.
Auch Idee und Konzeption der "Schallnovelle" sind neu, handelt es sich hierbei nämlich keineswegs um ein gewöhnliches Hörbuch, für das Slut einige Songs beigesteuert haben. Auch eingelesene Versatzstücke und einzelne Auszüge aus dem Roman werden musikalisch in Szene gesetzt, ja, sogar eingesungen. Die Musik, der Roman - zwei Komponenten, die hier nie für sich stehen, sondern zu einem großen Ganzen verschmelzen.
Dem zu folgen kann an manchen Stellen anstrengen, wenn zum Beispiel zwei Monologe parallel vorgelesen werden. Und wer dem Plot wirklich folgen möchte, sollte zusätzlich das Buch zur Hand nehmen, denn nur dann erschließt sich die Geschichte mit all ihren Zusammenhängen.
Trotzdem ist bei diesem Zusammenspiel kaum was schief gegangen, aber das war eigentlich abzusehen: eine junge, erfolgreiche, ausgezeichnete Autorin und eine Band, die in den letzten Jahren zur festen Institution der deutschen Indie-Szene geworden ist.
Das hier begeistert Fans wahrscheinlich gleichermaßen wie die Feuilletons großer, deutscher Tageszeitungen - genau wie damals, als Slut Stücke der Dreigroschenoper neu vertonten. Nur gut, dass der Liaison zwischen Literatur und Liedgut diesmal kein Rechtsstreit im Weg steht.
2 Kommentare
Ganz großes Kino, wie ich finde. Slut werden immer besser, von Album zu Album, wie ich finde. Dieser Mix ist echt gelungen, die Thematik heikel. Mutig!
vollkommen an mir vorbeigegangen, gerade am reinhören und mein herz geht auf. so soll das klingen! neurotitan! wie großartig!