laut.de-Kritik
Die Komponenten eines Klassikers: Depressionen und LSD.
Review von Martin MengeleAuflösung ("Disintegration") ist die Grundstimmung, die vor allem die politische Welt im Jahre 1989 prägt. Wir befinden uns am Vorabend zum Ende des Kalten Krieges und des Zusammenbruchs des Ostblocks in Europa. Und so könnte man mutmaßen, der Albumtitel des achten Studioalbums von The Cure, das in jenem Jahr veröffentlicht wurde, wäre in hellsichtiger Voraussicht der kommenden Ereignisse gewählt worden.
Diese Band wäre jedoch nicht zum Inbegriff für melancholische Moll-Musik geworden, ginge es hier nicht um die ganz persönlichen und vor allem menschlichen Abgründe wie den Zerfall von Liebe und Freundschaft oder das Ende der Jugend.
Der Gemütszustand von Bandleader Robert Smith ist während der Entstehungsphase im Frühjahr 1988 alles andere als frohgemut. Die enge Bande, die ihn über Jahre mit seinem Jugendfreund und Gründungsmitglied Lol Tolhurst verbindet, steht unmittelbar vor der Zerreißprobe. Auf den zunehmenden Kult um seine Person und den damit verbundenen Starrummel reagiert der introvertierte Smith mit Rückzug und igelt sich mit seiner Verlobten Mary ein.
Als Hauptgrund für seine schwelende Schwermut nennt der Sänger später den unmittelbar bevorstehenden 30. Geburtstag. Für ihn das Alter, ab dem ein Popstar keine bedeutenden Werke mehr zustande bringen könne. So stürzt er sich zunehmend in eine Selbstmedikation aus Alkohol und halluzinogenen Drogen. Die Komponenten für die Entstehung eines Rock-Klassikers stehen also kurz vor ihrer Verquickung: Depressionen & LSD.
Die seit der Veröffentlichung von "Hot! Hot! Hot!" in Lauerstellung erstarrten Fans können zunächst zwar die Singleauskopplung "Lullaby" als logisch und konsequent nachvollziehen. MTV-Heads rund um den Globus goutieren Smith dagegen als burlesk geschminkten Spinnenmann in dem seit April 1989 ausgestrahlten Video. Die erst auf Albumlänge erkennbare Metamorphose von der exzentrischen Chartsband hin zur düsteren Misanthropenkapelle ist für den Durchschnittshörer ein halbes Jahr später aber schwer zu erfassen.
Nur die reiferen Anhänger, die der Band von Beginn an die Stange halten und "Pornography" als Meilenstein verehren, erkennen sofort das ihr innewohnende Potential. Das leise einsetzende Windspiel von "Plainsong", das in verheißungsvollen Keyboardwänden anschwillt und durch die typisch sphärische Cure-Gitarre dahin getragen wird, lässt zunächst noch offen, welche emotionale Richtung hier eingeschlagen wird.
Die Seelenlage konkretisiert sich auch noch nicht mit "Pictures Of You", das im Grunde dieselbe bittersüße Ausstrahlung hegt, jedoch im Gesang eher zum (fast fröhlich) schmachtenden Mitträllern anregt. Vielmehr könnte man meinen, dass die Stimmung doch noch hin zu den erlösenden Popballaden umschwenkt, wenn die Downtempo-Orgel von "Lovesong" einsetzt und sich mit der schon von "Lullaby" bekannten pizzicatoähnlichen Gitarre vereinigt.
Smiths persönlichster Song, der ursprünglich als Hochzeitsgeschenk an seine inzwischen geehelichte Jugendfreundin Mary gedacht war, gerät zum Superhit des Albums. "Last Dance" öffnet den Mahlstrom aus dunklen Keyboardwogen und einer ätherisch taumelnden Gitarre, die alles überragt. Smiths klagender Gesang zerrt einen schließlich hinab in den undurchdringlichen Schlund.
Sollte es bis dahin noch Widerstand gegeben haben, vermögen Bassist Simon Gallup und Drummer Boris Williams mit "Fascination Street" den Herzschlag in Intensität und Frequenz neu zu eichen. Smiths wütende Hasspredigt an die ihm gegenüber praktizierte Verehrung, die bis hin zu bizarrem Götzendienst pervertiert, ist der Nährboden für einen der stärksten Cure-Songs überhaupt.
Verwirrende, rückwärtslaufende Keyboardflächen intonieren das unterirdisch röhrende "Prayers For Rain". Die als psychedelisches Gitarren-Mantra angelegten Stoßgebete münden schließlich wirklich in den herbeigesehnten Regen als Basis für das in völliger Verzweiflung gipfelnde "The Same Deep Water As You". Eine Grundstimmung, die für dieses Album über die Jahre hinweg kennzeichnend sein wird.
Robert Smith stellt im Jahr 2000 mit Erscheinen von "Bloodflowers" klar, dass zusammen mit "Pornography" nun ein Triptychon vorliegt, das die Essenz der Band über die Jahre zeigt und dessen Quell wahrscheinlich in dieser Verzweiflung zu finden ist - mit dem strahlenden "Disintegration" im Zentrum, als Mitteltafel, nicht nur durch seinen Stellenwert als kommerziell für die Band erfolgreichstes Album.
Die nun 21 Jahre später vorliegende Neuauflage enthält dazu die für die Deluxe Editions von The Cure gewohnte Werkschau: Noch unfertige Demos, teilweise direkt aus Robert Smiths Wohnzimmer - nur er, seine Gitarre und ein Drumcomputer. Dazu auch alternative Takes aus dem Studio zusammen mit der Band. Ein Highlight ist das damals entstandene Judy Collins-Cover "Pirate Ships", das Smith für eine Compilation zum 40. Jubiläum von Elektra Records beisteuern wollte, aber nie Verwendung fand.
Vervollständigt wird die Rückschau durch eine Neuauflage des Live-Albums "Entreat", ein um alle Disintegration-Songs ergänzter Mittschnitt des legendären Abschlusskonzerts zum europäischen Teil der Prayer-Tour im Wembley Stadion am 24. Juli 1989. Und damit nicht genug: Auf thecuredisintegration.com finden sich noch weitere Perlen aus der Cure'schen Schatztruhe. Darunter auch die sagenumwobene Tiananmen-Live-Version von "Faith" im Palaeur in Rom 1989, die am selben Tag entstand, als Panzer über den Platz des Himmlischen Friedens in Peking rollten. Der sonst so unpolitische Smith steigert sich darin gegen Ende in eine wütende Hasstirade über die Verantwortlichen des Massakers.
6 Kommentare mit einer Antwort
(Cure-Fan-Gelaber Anfang:)
melancholische Abgründe introvertierte Rückzug schwelende Schwermut Alkohol und halluzinogenen Drogen Depressionen LSD bittersüße Ausstrahlung düsteren Misanthropenkapelle Mahlstrom aus dunklen Keyboardwogen klagender Gesang völliger Verzweiflung nochmehr Verzweiflung und...alle Cure-Klischees bedient, Glückwunsch.
Wie Simon in den Trilogy-Interviews erzählt, und was auch aus Rogers Geschichte zur Entstehung des Albums auf seiner Website hervorgeht, hatten die Herrschaften in Boris' hübschen Haus in Südfrankreich "quite a happy time recording it" (Simon), es ist ein Cure-Album zu dem alle Bandmitglieder (außer der arme Lol) musikalisch beigetragen haben (z.B. stammt die Musik von Lovesong oder, wenn ich mich nich vertu, auch von Prayers of Rain und Untitled von Simon), also lässt sich das schwerlich auf Roberts angebliche Lebenskrise zurückführen, die, glaube ich, sowieso nur einer seiner gern erzählten Mythen ist. Robert und seine Texte auf der Disintegration sind nachdenklich, negativ, aber nicht depressiv.
Überhaupt kann ich nicht nachvolziehen, wie viele Leute es schaffen, in diesem Mann ein zartes zerbrechliches deprimiertes Pflänzchen zu sehen, wenn man sich überlegt, wie er, im Grunde immer völlig überzeugt von sich und seinem Schaffen, selbst mit zarten Anfang 20, also in der tatsächlichen Depri-17Seconds-Faith-Pornography-Phase, absolut konsequent und gegen sämtliche Widerstände seinen Weg verfolgt hat (das gleiche gilt eigentlich auch für die Pop-"Schocker" wie die meisten Songs von 1983, KM³ oder WMS.
Und the Cure waren zu diesem Zeitpunkt, als Disintegration entstand, einfach keine verzweifelte Depri-Band, genausowenig, wie sie es heute sind.
Das Album mit den tiefen Abgründen, auch, soweit man das von außen und 30 Jahre später nachvollziehen kann, in persönlicher Hinsicht, war Pornography. Disintegration ist happy-sad , vielschichtig, manchmal hymnisch und manchmal düster, the best album ever und will in meinen Augen irgendwie nicht so ganz mit dieser ganzen Cure-Klischee-Anhäufung zusammenpassen.
(Cure-Fan-Gelaber Ende.)
Schön gesagt!!!Auf den Punkt.Die nächste Rezi solltest DU schreiben.`happy-sad`,ganz genau so ist es.Danke Dir.
http://www.youtube.com/watch?v=rRnRX85tQu4
also als echter fan kann ich sagen es gibt nur einen gott: belafarinrod
und was hat das jetzt mit the cure zu tun?
Nach 10 Jahren wieder einmal gehört: und für top befunden. Ein wirklich zeitloses Album, wie ein dunkler Blumenstrauss. Leider absolut grottig produziert.
disintegration is the best album ever