laut.de-Kritik
Omar und Cedric zelebrieren akustische Anarchie.
Review von Matthias MantheDortmund im Spätsommer 2003. Obwohl "De-Loused In The Comatorium" erst wenige Wochen zuvor erschienen war, pilgern Menschen aus allen Himmelsrichtungen in die Ruhrmetropole. Elektrizität liegt in der Luft des hoffnungslos überfüllten Clubs, genug für die Beleuchtung ganzer Einkaufszentren. Dann ist es soweit: The Mars Volta betreten wortlos die Bühne - und entfachen augenblicklich eine Welle schweißtreibender Ekstase.
Omar übt sich im Liebesakt mit den sechs Saiten, während Cedric zu ausschweifenden Schlagzeugsoli einen manischen Salsa nach dem anderen aufs Parkett legt. Die Summe der einzelnen Zuschauer verschmilzt zu einer wogenden Masse und fällt zwei ununterbrochene Stunden später entrückt grinsend auf die Straße.
2005 haben sich die Dimensionen verschoben. Einerseits füllen The Mars Volta die großen Venues des Landes und ziehen mit ihrer extravaganten Performance Heerscharen an. Andererseits spaltet das monumentale, im Vergleich zum Vorgänger noch unzugänglichere Zweitwerk die Fans. Ein Schisma, das diese außergewöhnliche Band mit "Scab Dates" weiter verschärft. Ähnlich wie "Frances The Mute" fordert das in Eigenregie produzierte Livealbum durch ausufernde Jam-Anteile und zerhackstückelte Tracklists heraus.
Die unbekannten Songtitel bezeichnen dabei lediglich Zwischenspiele, der Neuigkeitswert tendiert meist gen null. Das Caneske "Haruspex" zum Beispiel führt fünf Minuten lang ins Nirgendwo und verharrt im musikalischen Embryonalstatus. Wirklich greifbar und nah am Original gibt sich nur "Concertina" von der "Tremulant"-EP. Der klimaxfreie Track zählte aber noch nie zu den Großtaten, auch live gewinnt er nicht an Relevanz.
Etwas besser gefällt "Take The Veil Cerpin Taxt". Fast schon frech allerdings der extreme Bootleg-Sound: Jon Theodores Drums schnarren dumpf, Omars Spiel gibt es nur in mono, und Cedrics verhallte Stimme klingt seltsam abwesend, ja kraftlos. Wie die auf älteres Material beschränkte Setlist bleibt die mäßige Tonqualität ein Rätsel. Schließlich gelten die Protagonisten als perfektionistisch. Sie bessert sich jedoch im Verlauf der CD, wenn Aufnahmen aus anderen Konzerten zum Zug kommen, und mündet in den exaltiertesten Moment: "Cicatriz".
Ein unwiderstehlicher Sog aus weiten Gitarrenimprovisationen, in dessen Strudel hypnotischer Gesang, orgiastische Orgeln und rasende Schlagzeug-Eskapaden die Sinne betäuben. Hier passt all das hervorragend zusammen, was vorher der Willkür anheim fiel. Leider machen nervige Field Recordings im 20-minütigen "Part IV" des Stücks vieles wieder zunichte. Ein Skipkandidat, denn auf Dauer ist diese Collage aus Konzertgeräuschen, Freejazz-Bläsern und Stimmenwirrwarr nur schwer zu ertragen.
"Scab Dates" zelebriert akustische Anarchie und treibt das Spiel mit der Erwartungshaltung auf die Spitze. Insofern wäre der Beweis der Einzigartigkeit auch im Bereich Liveplatte erbracht. Wer The Mars Volta noch nie auf der Bühne gesehen hat, lässt aber besser die Finger von der Scheibe. Und auch Die Hard-Fans haben hieran ordentlich zu knabbern, denn die Intensität des Moments zu konservieren, gelingt selbst der Ausnahmeband nur teilweise.
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