laut.de-Kritik
Dialekte-Crashkurs mit dem Santiano-Mitglied.
Review von Philipp KauseAlleingänge von Bandmitgliedern wurzeln meist im Wunsch nach Selbstverwirklichung mit einer anderen Art von Musik, Selbstüberschätzung, besseren Booking-Optionen oder gruppeninternem Streit. Letzteres ist bei Santiano, wo Timsen sonst spielt und singt, nicht bekannt. Das Booking ergab lediglich fünf zusätzliche Gigs in diesem Jahr. Überschätzt hat der Seebär sich trotzdem nicht. Denn er legt eine Platte vor, die interessanter ist als alle Alben seiner Crew.
"Vun Hier" kombiniert die nordische Mundart Plattdeutsch und den Schunkel-Folkrock Santianos mit einer unerwarteten Ruhe des Erzählens, so dass die Atmosphäre, der Sprachklang und die Stringenz mehr überzeugen als die einzelnen Wörter. Wenn man nicht versteht, was Timsen singt, kommt zumindest ein Gefühl herüber: Hier entlastet er sich wohl von verschiedenen Beobachtungen, die er so macht, die vielleicht nicht ganz sortiert sind, aber zu guter Musik inspiriert haben. Insgesamt hört sie sich rustikaler an und weniger mit Glühwein-Schlager vermischt als bei der Charts-Rakete Santiano, in der Timsen mehrere Funktionen als Multiinstrumentalist wahrnimmt. Einen Abstecher Richtung Arena mit Backfischbrötchen gibt's trotzdem, in "Dörte Dancing", das er mit seiner Gruppe auch auf Wacken performen könnte.
Was sich trotz Plattdeutsch leicht verstehen lässt, ist "Instagram". In trockenem Humor deklariert der Küstenkenner "Instagram" zu einer unbekannten Region, die er noch nie bereist habe. Solche tollen Inseln wie Amrum, Helgoland und Sylt habe er derweil in Fleisch und Blut betreten - aber um sie zu genießen, nicht um von dort Fotos zu posten. Die Bubble Instagram sei für ihn hingegen kein Must-See-Place. Der Manager jedoch predigt: Du musst!
"Heimweh ft. Stefanie Heinzmann" schlägt die Brücke von der Nordsee in die Alpen. So ergibt sich die Gelegenheit, Stefanie mal auf Schwyzerdütsch zu erleben "Heimweh" erweist sich als Schlüssel-Track zu diesem Album und seiner Botschaft: Going local macht glücklich. Timsen lebt die 'Glokalisierung'. Viel Ton-Varianz gibt es in diesem naturverliebten Stück über die Einsamkeit in einer fremden Stadt leider nicht. Der dissonante Country-Rock der beiden klingt metallisch, allzu übertrieben leidgeplagt - bestenfalls Trucker-Musik zum Wachbleiben auf der Autobahn ohne ästhetischen Anspruch. Beide Duett-Stimmen hören sich unsauber an, die von Heinzmann altbacken und ein bisschen schräg.
So ganz alleine zeigt sich Timsen auf dem Album auch sonst nicht. Denn Dieter Birr, Kabarettist und TV-Talker Ringlstetter sowie der Südtiroler Dialektsänger Max von Milland machen mit. Ina Regen, Musicalkünstlerin, Background-Vokalistin von Conchita Wurst, bereichert die Mundart-Vielfalt um eine oberösterreichische Facette in "Wie Een Kind ft. Ina Regen". Und Niedecken kontrastiert in "Aff Un To ft. Wolfgang Niedecken" das Plattdeutsch mit Kölsch. Im großartigen Rheinland-Schleswig-Schulterschluss durchlebt man zur Fiddle alltägliche Up's und Down's, den Blick auf halb-volle und halb-leere Gläser. "Aff un zu is alles herrlich, aff un zu ooch janz erbärmlich, af un zu jäyd eenfach alles schief."
Stärken und Schwächen liegen eng beieinander: In "Lebenszeit ft. Maschine" prallen beschwingter Celtic Folk und Irish Pub-Rock auf die altertümliche Sprachfärbung. Entsprechend im Uptempo zu bleiben, wäre die beste Entscheidung gewesen - statt mit "Wie Een Kind ft. Ina Regen" die mittanzenden Hörer:innen abrupt auf der Schleimspur einer melodramatischen Klavier-Geige-Ballade über das Leben ausrutschen zu lassen, wo "der Wind zum Sturm" wird und zwischen Wetter-Metaphern wenig Greifbares zum Vorschein kommt außer verstimmt gesungener Gemeinplätze.
Der 59-jährige Timsen, der aus seinem Vornamen Hans-Timm den 'Tim' und aus Hinrichsen das 'sen' zog, nutzt nicht jede Chance seines Quasi-Solo-Erstlings. Dennoch bietet er viele unterhaltsame und gut gemachte Momente wie "Wi Holt Tosam" oder die Holstein-Hymne "Vun Hier".
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