laut.de-Biographie
Valerie June
Valerie June wächst als Teenager in den 90ern im Großraum Memphis auf. Ihr Papa hat eine Konzert-Bookingagentur. Prince und Bobby Womack zählen zur Kundschaft. Valerie klebt Plakate für deren Shows. Nur mit ihrer Assistenz kann sich der Vater diesen Nebenjob leisten, bei dem er drauf zahlt.
Läuft ein Gig schlecht, reißt das ein vierstelliges Loch in die Familienkasse. Doch er macht die Zusatzarbeit aufgrund seiner Passion für Rhythm and Blues. Fünf Kinder hat er zu versorgen. Im Hauptberuf schuftet er auf Baustellen. Es reicht finanziell für einen lieblosen, garagenartigen Bungalow in Jackson (etwa 100 Kilometer von Memphis). Bis dieser abbrennt.
Valerie ist 14, kommt von der Schule heim, sieht das Gebäude in Flammen stehen. "Wir haben alles verloren", erzählt sie dem Guardian. Zeitweise lebt die schicksalsgeplagte Familie in einem Motel. Die Kirche wird zum Zufluchtsort für Teenie Valerie. Sie entdeckt den Gospel für sich.
"Da gab's so um die 900 Songs in dem Kirchen-Liederbuch. Wir kannten viele Tonarten und die Texturen in den mehrstimmigen Song-Schichten, und wie wir unsere Stimmen als Instrument einsetzen können. Ich glaube", erzählt Valerie dem Guardian, "das ist auch der Grund, warum ich zuerst Stimmen höre, wenn ich anfange Musik zu machen."
Die Musikinfizierte mit dem Soul-Fan als Papa beginnt mit 19 auch öffentlich zu singen. Ein Instrument beherrscht sie zu dieser Zeit nicht. Bis auf die Gitarre ihres Opas hat sie keines, auch kein Geld, um eines zu kaufen. Um einen Start als Songwriterin zu finanzieren, geht sie putzen. Sie kocht Kaffee, kellnert. Und verkauft gewisse Substanzen. Aber keine illegalen, wie sie zweideutig sagt.
Nach den ersten Plattenaufnahmen reichen die Einkünfte trotzdem nicht. Mit Ende 20 wird bei ihr Diabetes diagnostiziert. Schulden aus vielen Arzt- und Apothekenrechnungen sind damals noch durch kein 'Obamacare' gedeckt. Daher tritt sie nach den 'Brotjobs' noch in manch x-beliebiger Spelunke auf, spielt Barkonzerte, bei denen kaum jemand zuhört - Hauptsache, frisches Geld kommt rein. Ergänzend streckt sie ihre Fühler nach Jobs als Fotomodel aus. Auf ihrer Showcase-Seite posiert sie in blauen Gummistiefeln, als Western-Girl mit Dreadlocks. Später recycelt sie eines dieser Fotos fürs Artwork einer selbst-gebrannten EP. "Ich hab hart gearbeitet, um alle CDs aus dem Kofferraum zu verkaufen." Einen Longplayer, zwei EPs. Parallel bringt sie sich bei, Ukulele und Banjo zu spielen. Erst sechs Jahre nach ihrem Debüt, kann sie 2012 ihre Schulden abbezahlen.
Mit 30 setzt die am 10. Januar 1982 geborene Südstaaterin eine Zäsur. Sie zieht an die Ostküste, nach Brooklyn, NYC. Dort kommt sie beim Jazzlabel Concord unter. Ihre erste LP mit Plattenvertrag wird sogar - 2013 für Americana-Scheiben unüblich - auf 180 Gramm-Vinyl gepresst und in Europa released. Das Label dort ist Sunday Best (u.a. für David Lynchs CDs verantwortlich).
Man erhofft sich einen kleinen Hype: Denn der Produzent, Gitarrist und Background-Sänger fast aller Tracks heißt Dan Auerbach. Er besorgt den Feinschliff einer eigenwilligen Funk-Folk-Bluegrass-Fusion. Das Resultat stößt auf begeisterte Kritiken. Der britische Independent überschlägt sich vor Lob. Das Blatt beurteilt die Hinwendung zu Bluegrass und den traditionellen Wurzeln der Appalachenmusik als Valeries großes Verdienst.
Michelle Obama erklärt sich zum Fan. Viele Rezensenten wirken so geplättet vom unzeitgemäßen Charakter der Musik, dass sie frenetische Formulierungen wählen. Das britische Mojo-Magazin nimmt mit der Bezeichnung "organische Mondschein-Roots-Musik" einen späteren Album-Titel vorweg. Ansatzweise skeptisch äußert sich der US-Rolling Stone, der die Platte wie einen Oldtimer-Traktor mit LED-Lichtern empfindet. Die Stimme verweise zu gleichen Anteilen auf Diana Ross und Dolly Parton. Nicht von der Hand zu weisen: Dolly Partons LP "Jolene" rangiert unter Valeries persönlichen Top 5-"Platten, die ihr Leben änderten", wie sie dem Blog des Streaming-Dienstes Tidal mitteilt. In mehreren unserer Nachbarländer erreicht die Platte "Pushin' Against A Stone" die Top 30, so in der Schweiz (Rang 29) und in Frankreich (Peak-Position 23).
Bis zum Nachfolger dauert es geraume Zeit. Dafür gerät der sehr opulent. "The Order Of Time" (Ende 2017) enthält ein üppiges Aufgebot aus Posaune, Saxophonen, Kontrabass-Klarinette, zwölfsaitiger Gitarre und Vibraphon. Manches davon findet sich in der Pop- und Rock-Geschichte extrem selten.
Der Schwerpunkt von Valeries CD liegt eindeutig auf der atmosphärischen Gestaltung. Viele Rezensionen lesen sich daraufhin - voll glitzernder Adjektive und Metaphern - poetischer als die knappen, trockenen Songtexte. Vielleicht möchte Bob Dylan beim Texten helfen. Der äußert 2017, er sehe in Valerie June ein Talent, dem er gerne zuhöre, nennt sie in einem Atemzug mit Norah Jones. Norah tritt als Gastsängerin in "The Order Of Time" auf.
Valerie June Hockett, die den Sommermonat zum Nachnamen gemacht hat, hat ihren Traum von einem Leben in der Musik wahr gemacht und eine recht eigene Musiksorte ersonnen und umgesetzt. Von ihrem Vater habe sie das Träumen gelernt, weil dieser so beharrlich daran ging, seine Lieblingsmusiker für Shows in die Stadt zu holen, verrät sie dem Guardian. "Aber es fühlt sich so an, als sei die Gesellschaft nicht an Träumern interessiert."
Dabei entzünde es "das Licht, das wir alle in uns haben", wenn wir träumen wie damals, als wir Kinder waren, kündigt Valerie June ihren illustrierten Gedichtband "Maps For The Modern World" und die LP "The Moon And Stars: Prescription For Dreamers" (beide 2021) an. Die Scheibe ruft sehr viele, zwar durchweg wohlwollende, oft aber gemischte Reaktionen in großer Bandbreite hervor.
Ohnehin klingen diese Träume in der "Deluxe Edition" (2022) zugänglicher und entschlackt. Um die 30 US-Konzerte hat die Künstlerin mit dem Album zu bestreiten - von Cincinnati bis Portland. Kein Schauplatz rockt ihr Gemüt dabei mehr als die Metropole Memphis, mit deren Historie.
"Es gibt da so viel ausgeflippten, freakin' soul, schwer zu beschreiben, Magie. (...) Jedes einzelne Mal, wenn ich ein Interview gebe oder mit Musik zu tun habe", so Valerie im VMP-Blog, "dann spreche ich über Memphis. Memphis verlangt es, dass man darauf schaut, und den Stellenwert dieser Stadt in der Musik- und Zeitgeschichte anerkennt. Es ist die am häufigsten besungene Stadt in der Welt. Da gibt's lauter gutes Zeug!"
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