laut.de-Kritik

Großes Westcoast-Panorama zwischen Folkrock und Synthpop.

Review von

Der Wind hat mir ein Lied erzählt. Irgendeine geheimnisvolle, fruchtbare Verbindung muss es wohl geben zwischen der Natur des Windes und dem Klang von Musik. Ob Bob Dylans "Blowin' in the Wind", Jimi Hendrix' "The Wind Cries Mary", Elton Johns "Candle in the Wind" oder "Wind of Change" von den Scorpions – Lieder, die vom Wind erzählten, suchten die Tiefe und gingen damit in die Geschichte ein. Wenn also der New Yorker Singer-Songwriter John Ross und seine Indie-Rock-Band Wild Pink ihr drittes Album mit "The Wind Was Like A Train" einleiten, platzieren sie damit nicht nur einen Song, sondern ein selbstbewusstes Versprechen.

Besser noch: Wild Pink halten ihr Versprechen. Mit dem in L.A. aufgenommenen und von Grammy-Gewinner David Greenbaum (U2, Beck, Jenny Lewis) produzierten Westcoast-Album "A Billion Little Lights" gelingt der Band ein modernes Fortknüpfen von Americana-Traditionen. Sphärisch verflechten sich Natur- und Heimatbilder mit Klanglandschaften aus Folk und Synthpop. Im weiten Western-Panorama von Pedal-Steel-Gitarre, Violinen und feinen elektronischen Verzierungen blendet jedes Lied einfühlsam ins nächste über – organisch entsteht ein Hörerlebnis, das Erinnerungen an Laurel-Canyon-Klassiker der 70er aufleben lässt und sich von einengenden Streamingnormen weit entfernt.

Getragen vom frischen Aufbruchswind des Openers verfolgt das Album große Ambitionen. "Bigger Than Christmas" führt Glockenklänge und Slide-Gitarre in einen andachtsvollen Naturkreislauf: "It seems so clear / Nature takes its course / Year after year / Always growing near". John Ross’ Gesang bewegt sich zurückhaltend, aber klar ausgerichtet, knüpft an Storyteller-Stimmfarben von Death Cab For Cuties Ben Gibbard oder William Fitzsimmons an. Nach drei Minuten erreicht das Lied mit tiefem, mehrstimmigem Gesang eine beeindruckende Gravitas.

Als erste Singleauskoppelung bündelt "The Shining But Tropical" weite Soundflächen durch Rototom-Beats und einen Power-Pop-Refrain. Klangexperimente steigern sich in "Amalfi" zu einer meditativen Melange von akustischem Fingerpicking und elektronischen Zutaten. Im verträumten Hall vereinen sich Ross' modifizierte Vocals und harmonische Zusätze der Ratboys-Sängerin Julia Steiner zu einer Synth-Folk-Variante des Air-Klassikers "All I Need": "I can feel you with me / When I feel everything". Auf ein Album von The Postal Service oder Sufjan Stevens hätte der Track auch gut gepasst.

In der Albummitte präsentieren Wild Pink ihr Meisterstück. Mit Wucht und Witz erweitert "Oversharers Anonymous" vertraute Americana-Muster zu einer energischen Hymne nach Hollywoodmaß. Angetrieben durch das kraftvolle Pedal-Steel-Riff von Mike Brenner zeichnet Ross ein weitblickendes Zeitdokument zwischen aktuellen Web-Oberflächen und naturhistorischer Tiefenschärfe. Weiterwirken können die gehauchten Lyrics in einem brillanten instrumentalen Schlussteil, zu dem sich die Violistinnen Libby Weitnauer and Sarah Williams gesellen. Mächtig ziehen Country-Klanglandschaften vorbei wie die sonnendurchfluteten Weizenfelder im Rasenmäher-Road Movie "The Straight Story".

"Making hay while the sun shines" lautet das Leitmotiv des groß angelegten Albums. Wörtlich taucht die Zeile in einigen Songs auf, und sie prägt, wie Fotograf Keith Pratt im E-Mail-Austausch erzählt, auch die Ästhetik des Albumcovers und Artworks. So wie die mehrfach belichtete 35mm-Aufnahme eine verlassene Wüstenstraße im kalifornischen Lancaster abbildet, erarbeitet "A Billion Little Lights" eine faszinierende Weite und Größe, die auf den beiden Vorgängeralben "Wild Pink" und "Yolk In The Fur" höchstens vorbereitet wurde. "Bei dieser Platte hatte ich ein, zwei Jahre Zeit, um die Songs richtig zu erforschen und sie so üppig wie möglich klingen zu lassen", erzählt Band-Mastermind Ross dem Magazin guitar.com.

Spuren großer Vorbilder durchziehen das Album. Mit der zeitlosen Reichweite eines Traditionals trägt "You Can Have It Back" seine Referenzen heiter spazieren. Inspiriert von Townes Van Zandt und Fleetwood Mac würdigt der eingängige Sing-Along-Track in einer einzigen Zeile gleich zwei Altmeistern: "Heart of Gold, Honey Bee" – Neil Young hier, Tom Petty dort. Natürlich darf beim Heartland-Rock-Revival "der Boss" nicht fehlen. In den melodischen "Pacific City"-Ratgeber fügen sich gleich zwei Bruce Springsteen-Titel ein ("Atlantic City", "Thunder Road"). Schon "Amalfi" münzte Springsteens berühmtes "Born To Run"-Motto "Tramps Like Us" ganz lässig in "Trampled Like Us" um.

Umgeben von kulturellen Urahnen, die vereinzelt auch aus dem Kino stammen ("Heat", "Groundhog Day", "Indiana Jones") aktualisiert "A Billion Little Lights" in zahlreichen Liedzeilen die Heimatsehnsucht der Folkmusik. "Come back home" heißt es im poetischen Sog von "Family Friends". "Come rest your heavy heart" lautet die Spiegelzeile in der meditativen Fortsetzung "Track Mud".

Weit vom Kitsch entfernt beschließt das ambitionierte Album mit "Die Outside" seine naturnahe, substanzielle Rahmung. So wie das Werk mit dem Atem des Windes belebt wurde, verabschiedet es sich eindringlich über eine Wiedervereinigung mit der Natur – "Ripen in the sun / Crumble into dust / Mix in with the dirt / Wash out in the rain".

Trackliste

  1. 1. The Wind Was Like a Train
  2. 2. Bigger Than Christmas
  3. 3. The Shining But Tropical
  4. 4. Amalfi
  5. 5. Oversharers Anonymous
  6. 6. You Can Have It Back
  7. 7. Family Friends
  8. 8. Track Mud
  9. 9. Pacific City
  10. 10. Die Outside

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