laut.de-Kritik
Jamie Stewart gelingt ein weiterer Normbruch.
Review von Matthias MantheXiu Xiu, die Grenzgänger, Karikaturisten, Weltenwanderer. Auch das sechste Album wird das Gros der Betrachter auf dem gut eingesessenen Stuhl zwischen Indie und Avantgarde verorten. Dort, wo zuletzt The Animal Collective oder auch Vampire Weekend platziert wurden, um bei Auftauchen weiterer schwer kategorisierbarer Künstler eine affirmative Verweisfunktion zu erfüllen.
Offensichtlich ist mit Zirkelschlüssen jedoch niemandem geholfen, weil die Sammelmappen "gewöhnlicher Indierock" und "normsprengende Avantgarde" nur aus Sicht der zweiten Person Bestand haben. Begriffe wie "normal" und "außergewöhnlich" besitzen im Einzelnen keine Immanenz. Jamie Stewarts Persönlichkeit bleibt jederzeit einzigartig, und über das Original verfügt letztlich immer nur der Urheber selbst.
Für den Popsong existiert ein gemeingültig bewertbarer Finalzustand ebenso wenig, weshalb das ewige Scheingefecht zwischen objektivem und subjektivem Musikjournalismus von vorneherein müßig ist. Welche Mittel bleiben dem Schreiber also auf dem Drahtseil der Vermittlung? Angenommen, er wollte möglichst vorurteilsfrei zusammenfassen, dürfte er die Liner Notes des Kunstschaffenden als Richtschnur akzeptieren?
Ist es verifizierbar, für "Women As Lovers" Harmonium und Glockenspiel, Folkgitarre und Synthies, Trompete und Vibraphon als richtungsweisendes Instrumentarium zu nennen? Sind dann aber ebenfalls aufgeführte Klanggeber wie "Guillotine" oder "heart clogging screamz!!!" nicht äußerst perspektivistische Umschreibungen? Antwort mag sich jeder selber geben.
Desgleichen lässt sich die "objektive" Behauptung in Frage stellen, Stewarts Welt sei durch und durch pessimistisch und verdorben. Natürlich, erneut dominieren für die Augen der Mehrheit schreckliche Erzählungen. Sie berichten Düsteres aus den Unterabteilungen Lust und Leid, Schwangerschaft und Freitod, Außenseitertum und Devotismus, Guantanamo und Kindesmissbrauch gar.
Als Coverbild dient eine unscharfe, pastellfarbene Aufnahme einer gefesselten Frau. Und wüsste man nicht um die Homosexualität des Songwriters und die Inhalte seiner Musik, es wäre wohl der Chauvinismus des Jahres. So aber gelingt Stewart ein weiterer Normbruch: einer mit dem vermeintlich entscheidenden ersten Blick.
Gleichzeitig rückt er mit derartigen Provokationen brisante Inhalte raus aus dem Abseits und rein in einen Diskurs über Authentizität. Doch unabhängig davon, ob die Texte und Sounds geschickter Kunstgriff oder chiffrierter Erlebnisbericht sind, stellen wir erneut fest: Ihr Grund bleibt unmittelbar mit ihrem Schöpfer verknüpft und gerade bei vorliegender Band schlussendlich objektiv unzugänglich.
Etwas verlässlicher mutet die Annahme an, das Interesse der Kalifornier gelte nicht dem kompositorischen Gesamtkonzept eines Tracks, sondern dessen Fragmentarium. Popskalen wie gerade Takte und Zugänglichkeit prägen Xiu Xius Dunkelromanzen insofern, als dass der Band eine Dekonstruktion jener Prinzipien am Herzen zu liegen scheint. Wir hören Bekanntes - allerdings in ent- und verrückten Kontexten.
Die Liebe für Korrosion dringt in "Gayle Lynn" besonders klar an die Oberfläche. Im Stars-Stil heben Stewart und Cousine Caralee McElroy zum feierlichen Duett an, während allerhand Ambient-Noise dazwischenfunkt, um sukzessive die Harmonie zu zersetzen. Diesen Kunstansatz haben so unterschiedliche Acts wie Why?, Oxbow und Devendra Banhart unlängst mit einem Xiu Xiu-Coveralbum gewürdigt.
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