laut.de-Kritik

Das Growlmonster macht auch mal Pause.

Review von

Alle paar Jahre ein neues Album, dazwischen touren wie von Sinnen: Die 'neue' Ära mit Alissa White-Gluz am Mikrofon, die nun auch schon elf Jahre dauert, ist für Arch Enemy von Beständigkeit und Erfolg geprägt. Die Hallen werden immer größer, das Liedgut erntet wohlwollenden Applaus. Alles stabil. Ein Störmoment kam erst auf, als Gitarrist Jeff Loomis 2023 absprang, weshalb sich Bandchef Michael Amott einen neuen Sparringpartner an der Saitenfront suchen musste.

Zittern musste man um die Zukunft der schwedisch-kanadisch-amerikanischen Melodeather freilich keine Minute. Warum auch? Gitarrist Michael Amott, Drummer Daniel Erlandsson und Bassist Sharlee D'Angelo sind schon seit den Neunzigerjahren eine eingeschworene Truppe, auch Alissa White-Gluz hat ihren Platz als Frontfrau und Co-Textschreiberin gefunden. Das Kernteam ist also bestens aufgestellt und eingespielt – nur wird am Spielfeldrand neu Joey Concepcion als zweiter Saitenhexer eingesetzt. In dieser Formation stürzt sich die Truppe nun in ihr zwölftes Album "Blood Dynasty". Und Anpfiff!

Der Tag, an dem Arch Enemy einen mauen Opener auffahren, ist noch fern: "Dream Stealer" geht nach sinfonischem Intro direkt in die Vollen, mit brachialem Geschredder wie zu besten Zeiten. Dabei umgeht die routinierte Truppe jede Monotonie-Falle, indem sie immer mal wieder Tempo und Melodiegrad variiert. Mächtige Growls und starke Drums treffen auf epische Gitarrensoli und dezente Streicher – alle Facetten des Bandsounds finden hier perfekt zueinander. Sogar der typische Stampfmodus taucht ein erstes Mal auf. Der Track fungiert damit auch gleich als eine Art Album-Preview.

Wer genau hingehört hat, wird auch die cleanen Vocals bemerkt haben, die kurz im Hintergrund aufblitzen. Die Hartwurst-Fraktion muss da wohl leer schlucken, doch fairerweise muss man sagen: Wir wurden schon seit "Will To Power" sachte daran herangeführt, dass White-Gluz auch mal aus der Rolle des dauerwütenden Growlmonsters schlüpfen will. Wer seinen Frieden damit gemacht hat, wird "Blood Dynasty" besser genießen können, setzt sie ihren Klargesang doch so prominent ein wie nie zuvor.

Das geschieht mitunter überraschend, so wie in "Illuminate The Path": Der Track fetzt zunächst ähnlich angriffig aus den Boxen wie der Opener, bis White-Gluz im Refrain unvermittelt den Rockhymnen-Modus anknipst. Plötzlich erklingt da die Titelmelodie zu einer imaginären Achtzigerjahre-Serie, die man nie gesehen hat. Es braucht zwar ein paar Durchläufe, um sich daran zu gewöhnen, doch hat es einmal klick gemacht, will man diese Melodie nicht mehr missen. Der Track ist definitiv auf der melodiöseren Seite beheimatet, doch der Härtegrad stimmt trotzdem. Auch die kleine Irritation kann eigentlich nur etwas Gutes bedeuten: Schließlich bewegen sich Arch Enemy in ihren schwächeren Momenten jeweils im Graubereich zwischen Konstanz und Formelhaftigkeit.

Clean Vocals finden sich auch andernorts auf dem Album und besonders ausgeprägt in "Vivre Libre". Arch Enemy covern hier einen Song einer französischen Hardrock-Band namens Blasphème – und verblüffen: eine Powerballade mit Klargesang von A bis Z und obendrauf französischem Text, was die Frankokanadierin am Mikrofon jedoch vor keine Probleme stellt. Ihre Stimme ist hier front and center, die Instrumente müssen sie lediglich ausleuchten. Netter Nebeneffekt: So bleibt auch mal etwas Raum für den Bass. Obschon das Kalkül hinter diesem Track (Checkliste gezückt: "Das hatten wir noch nie") durchschaubar ist, das Resultat ist stimmig und die logische Weiterentwicklung der Alissa-Ära.

Diesen stilistischen Ausbruch in Ehren wissen Amott und Co. natürlich um ihre erprobten Stärken. Entsprechend wird vieles von "Blood Dynasty" langjährigen Fans vertraut vorkommen. "March Of The Miscreants" ist die quasi-obligatorische Underdog-Hymne und punktet mit etwas vertrackterer Rhythmik sowie düsteren Vibes. "A Million Suns" hält diese Stimmung bei, ist aber bewusst unterkühlt gehalten, selbst die Refrain-Melodie bringen Arch Enemy hier vergleichsweise zurückhaltend ein. Das zielt eindeutig auf Frühwerk-Callback ab, bringt aber den Albumfluss irgendwie ins Stocken. Mit nicen und ausufernden Soloeskapaden eilen Amott und Concepcion dann doch noch zur Ehrenrettung.

"Don't Look Down" führt zurück auf die Überholspur und verbrennt jede Menge Saiten, Growls und Doublebass, um frischen Drive reinzubringen. Gegen Schluss zelebrieren die Musiker sogar einen instrumentalen Moment der (wohltemperierten) Ekstase. Etwas, das Daniel Erlandsson im laut.de-Interview auf generell gesteigerte Abenteuerlust im Songwriting zurückführt. Tatsächlich gefällt, dass sie den Faden auch mal eine Ecke weiterspinnen.

Das Intermezzo "Presage" ist leider nicht der Rede wert und nur ein ausgegliedertes Intro zum Titeltrack. Wenn das Wort 'Dynastie' im Titel auftaucht, muss es ja hymnisch-melodiös werden. Und das wird es: "Blood Dynasty" liefert eine dystopisch-kühle Melodeath-Packung, setzt einem bittersüße Melodien ins Ohr und haut gleichzeitig fies ins Genick. White-Gluz beweist wieder einmal, wie variabel sie auch in Growllagen agieren kann. Das Händchen fürs Krümelmonstern hat sie keineswegs verloren.

Nach diesem Ausflug ins Wohlig-Schwermütige überrascht "Paper Tiger" mit seiner leichtfüßigen Art und ausgeprägter 80er-Schlagseite. Iron-Maiden-Melodien? Power Metal? Alissa muss sich den Gesang verkneifen, denn einzig die Gitarrensaiten kreischen hier ungeniert, während Growlerin und Drummer das Ganze irgendwie erden müssen. Auch dieser Track zeigt die Band von einer ungewohnt lockeren Seite, was dank hörbarem Spaß an der Sache sogar aufgeht.

Das aggressiv knurrende "The Pendulum" bringt den Härtegrad wieder ins Lot und setzt verstärkt auf das orchestrale Element, das auf diesem Album nur punktuell zur Geltung kommt (was ich keineswegs vermisse). Der Refrain gab es aber definitiv schon in einem anderen Arch-Enemy-Album zu hören, oder? Sei es drum, "Liars & Thieves" fährt zum Finale noch einmal das volle Programm auf: erhabenes Intro, fettes Gebretter, kurzer Klargesang und epische Soli. Der Abschluss wirkt wie das optimistischere Echo zu "Dream Stealer" und fungiert richtigerweise als Recap.

Vielleicht spielt der Umstand mit, dass ich genau diese beiden Alben rezensiert habe, aber auch sonst wäre ich wohl zum selben Fazit gekommen: Arch Enemy halten die beeindruckende Form, die sie mit "War Eternal" erreicht haben, auch auf "Blood Dynasty". Wie geschickt sie brachialen Härtegrad und liebliche Harmonien vereinen, sucht seinesgleichen. Auch die Bereitschaft, vermehrt aus dem Gewohnten auszubrechen, zahlt sich aus – selbst wenn dies 'nur' auf dem Pfad hin zu noch mehr Melodien geschieht, den die Band ohnehin schon länger verfolgt. Verblüffend ist an dieser Entwicklung höchstens, wie kohärent Arch Enemy den den stilistischen Spagat hinbekommen. Manch andere Kapelle würde sich beim Versuch die Beine verrenken.

Trackliste

  1. 1. Dream Stealer
  2. 2. Illuminate The Path
  3. 3. March Of The Miscreants
  4. 4. A Million Suns
  5. 5. Don't Look Down
  6. 6. Presage
  7. 7. Blood Dynasty
  8. 8. Paper Tiger
  9. 9. Vivre Libre
  10. 10. The Pendulum
  11. 11. Liars & Thieves

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